Mehr Tote in der Corona-Krise Was die steigende Sterberate bedeutet
09.04.2020, 20:35 Uhr
RKI-Chef Wieler hatte die zunehmende Sterberate bereits erwartet.
(Foto: dpa)
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie sollen vorerst nicht verschärft werden, heißt es. Im Gegenteil: Kanzlerin Merkel sieht "Anlass zu vorsichtiger Hoffnung". Dabei zieht die Sterberate unter Covid-19-Patienten derzeit an. Ist das ein Widerspruch?
Die aktuellen Fallzahlen zum Infektionsgeschehen in Deutschland bestätigen die Bundesregierung in ihrem Handeln. Es gibt in der Coronavirus-Krise "Anlass zu vorsichtiger Hoffnung", wie Bundeskanzlerin Angela Merkel an diesem Donnerstag vor Ostern erklärte. Weitere Verschärfungen der Maßnahmen seien vorerst nicht nötig, hieß es. Dabei sterben derzeit Tag für Tag mehr Menschen an Covid-19 als je zuvor. Steht Deutschland hier vor einem Widerspruch?
Nein, denn dass im Verlauf der Pandemie auch hierzulande zunehmend mehr Menschen sterben werden, hatten Experten erwartet. Auf die aller Voraussicht nach anziehende Zahl an Toten hatte der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, bereits Ende März hingewiesen. Die vorläufige Sterberate, die sogenannte Letalität, beträgt nach ntv-Berechnungen und auf Basis der bisher bekannten Daten derzeit noch vergleichsweise niedrige 2,1 Prozent. Mehr als 2200 Menschen sind in Deutschland im Zusammenhang mit einer Sars-CoV-2-Infektion bereits gestorben. Dem gegenüber stehen mehr als 112.000 nachgewiesene Infektionsfälle, die seit Ausbruch des Erregers bisher von deutschen Gesundheitsämtern erfasst wurden.
Dass zunehmend mehr Todesfälle registriert werden, kommt für Experten nicht überraschend. Der Anstieg lässt sich unter anderem auch darauf zurückführen, dass es vermehrt Ausbrüche von Covid-19 in Alters- und Pflegeheimen gibt, wie etwa in Berlin und Nordrhein-Westfalen. Zudem gibt es große Infektionsherde auch in einzelnen Krankenhäusern wie dem Bergmann-Klinikum in Potsdam, in dem laut "BZ" bereits 32 Patienten verstorben sind. Wieler zufolge handelt es sich bei diesen Patienten um eine "besonders empfängliche Gruppe".
Außerdem gebe es mittlerweile "generell immer mehr Erkrankungsfälle bei älteren Menschen", so der RKI-Chef bei der jüngsten Pressekonferenz an diesem Donnerstag. "Wir hatten ja am Anfang die Situation, dass sehr viele junge Menschen erkrankt waren, von denen wir wissen, dass das Risiko einer schweren Erkrankung leichter ist."
Peak der Sterberate steht noch bevor
Wieler sagte weiter: "Die Todesfälle, die wir jetzt sehen, betrifft jene Menschen, die vor etwa ein bis zwei Wochen erkrankt sind. Darum gehen wir davon aus, dass die Zahl der Verstorbenen noch weiter steigt." Wer nun an einer Infektion mit dem Coronavirus stirbt, hat sich also nicht gerade erst infiziert, sondern wohl schon vor Wochen. Diesen Patienten konnten die derzeit geltenden Ausgangssperren leider nicht mehr helfen.
Entwicklungen in die Zukunft lassen sich Wieler zufolge nur bedingt vorhersagen. Derzeit lägen allerdings viele Patienten in den Krankenhäusern, was auf die Schwere der Erkrankungen hindeutet. Das Institute for Health Metrics and Evaluation der Universität Washington stellte hier schon düstere Hochrechnungen an.
Demzufolge wird die höchste Sterberate für Deutschland am 19. April erwartet - an diesem Tag dürften den Prognosen zufolge mehr als 350 Infizierte der Krankheit erliegen. Den bisher stärksten täglichen Anstieg bei der Zahl der Toten verzeichnete Deutschland am 8. April, als 256 Verstorbene gemeldet wurden. Ab Mitte Mai, heißt es in der Prognose aus den USA, seien dem aktuellen Stand nach weniger als zehn Todesfälle täglich zu erwarten - wenn die Maßnahmen des Social Distancing weiter eingehalten werden.
Antikörpertests für mehr Erkenntnisse
Auch wenn diese Zahlen dramatisch klingen - die Sterberate in Deutschland ist überaus gering. Denn weltweit liegt die bisher bezifferbare Letalität laut ntv-Datenteam bei 6,0 Prozent, wobei auch dieser Stand aus naheliegenden Gründen nur als vorläufige Orientierungsmarke verstanden werden kann. Deutschland könnte im internationalen Vergleich tatsächlich noch relativ glimpflich davonkommen: Während die US-Wissenschaftler für Deutschland insgesamt weniger als 9000 Todesfälle bis August erwarten, könnte es in Großbritannien in diesen Prognosen im gleichen Zeitraum rund 60.000 Tote zu beklagen geben.
Die Ursachen dieser höchst unterschiedlichen Aussichten hängen mit bekannten Faktoren zusammen: Das britische Gesundheitssystem gilt seit Jahren als reformbedürftig und ist schon jetzt überlastet. In Deutschland dagegen konnten binnen kurzer Zeit zusätzliche Kapazitäten geschaffen werden. Zudem liegt das Durchschnittsalter der Infizierten in Deutschland nach wie vor bei etwa 49 Jahren - der Anteil der Risikopatienten unter allen Erkrankten ist also bislang noch eher klein. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen liegt laut Wieler derzeit bei 80 Jahren - obwohl diese Altersgruppe nur einen kleinen Teil aller bekannten Infektionsfälle stellt.
Außerdem, und auch das ist bereits bekannt, werden in Deutschland sehr viele Tests durchgeführt - und ein Land, das mehr testet, hat bessere Chancen, mögliche Ansteckungsherde frühzeitig zu erkennen und "Infektionsketten zu brechen", wie es beim RKI heißt. Zugleich steigt damit auch die Zahl jener Fälle, in denen Infizierte nach Ablauf einer gewissen Frist wieder als genesen geführt werden können. In Deutschland war hier tatsächlich zuletzt eine positive Entwicklung zu verzeichnen: Die Zahl der aktuell Infizierten - die sich aus der Summe der bekannten Infektionsfälle abzüglich der Geheilten und Verstorbenen errechnen lässt - ging vor Ostern erstmals seit Wochen wieder deutlich zurück.
Wie hoch jedoch die Dunkelziffer der unerkannt Infizierten angesetzt werden muss, ist derzeit noch unklar. Viele Menschen haben Experten zufolge kaum oder gar keine Symptome und wissen so gar nichts von ihrer Erkrankung. Um mehr darüber zu erfahren, wie verbreitet das Virus im Land ist, will das RKI in den kommenden Tagen mehrere Studien starten. Dabei wollen die Forscher unter anderem per Bluttests nach Menschen suchen, die bereits Antikörper gegen das Coronavirus ausgebildet haben.
Die Ergebnisse seien "von großer Bedeutung, um den Verlauf und Schwere der Pandemie genauer abschätzen und die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen besser bewerten zu können", betonte RKI-Chef Wieler. Noch in diesem Monat sollen Blutspender und Menschen in einigen besonders betroffenen Corona-Ausbruchsgebieten untersucht werden. Voraussichtlich ab der kommenden Woche sollen alle 14 Tage rund 5000 Blutproben von Blutspendern analysiert werden. Erste Ergebnisse werden Anfang Mai erwartet.
Quelle: ntv.de