Panorama

Janssens zum Infektionsgeschehen"Werden überall über die 100er-Grenze springen"

17.03.2021, 18:08 Uhr
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Die Inzidenz steigt, die Zahl der Neuinfektionen ebenfalls. "Wir stellen uns auf das ein, was wir vorhergesagt haben", sagt Intensivmediziner Janssens im Interview mit ntv. Bald erwartet er deutschlandweit eine 7-Tage-Inzidenz jenseits der 100 - und unpopuläre Entscheidungen.

Die Inzidenz steigt, die Zahl der Neuinfektionen ebenfalls. "Wir stellen uns genau darauf ein, was wir eigentlich schon vorhergesagt haben", sagt dazu Intensivmediziner Uwe Janssens im Interview mit ntv. Bald erwartet er deutschlandweit eine 7-Tage-Inzidenz jenseits der 100 - mit möglichen Folgen auch für die Krankenhäuser. "Man wird nun Entscheidungen treffen müssen, die keinem gefallen werden", sagt er, denn Lockerungen müssten zurückgenommen werden.

ntv: Worauf stellen Sie sich in den nächsten Wochen ein?

Uwe Janssens: Wir stellen uns auf das ein, was wir vorhergesagt haben: Aufgrund der Öffnungen und aufgrund der Mutation B.1.1.7, die sich nach und nach durchsetzt und die eine deutlich höhere Ansteckungskraft hat, kommt es zu einer Zunahme der Infektionsfälle. Wir haben steigende Inzidenzwerte und werden in Deutschland in ein paar Tagen überall über die 100er-Grenze springen. In einigen Regionen ist das ja bereits der Fall.

Was sind die Folgen?

Janssens
Uwe Janssens ist Präsidiumsmitglied der Intensivmediziner-Vereinigung DIVI. Er arbeitet als Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler.

Was für Auswirkungen das für die Krankenhäuser hat, werden wir sehen. Auch ob es dann vermehrt wieder Patienten auf den Intensivstationen gibt. Das wird aber mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung geschehen. Wenn RKI-Chef Lothar Wieler für Ostern von Zahlen wie zu Weihnachten spricht, von 30.000 Infektionen pro Tag, dann macht das schon nachdenklich. Die Politikerinnen und Politiker dieses Landes denken jetzt auch sehr intensiv darüber nach, wie sie denn damit umzugehen gedenken.

Wie sollten wir damit umgehen?

Der Astrazeneca-Impfstoff ist ausgesetzt. Das müssen wir so hinnehmen. Aber selbst wenn er wieder an den Start geht, wird die Akzeptanz, die schon vorher schlecht war, noch weiter sinken. Das ist sehr, sehr bedauerlich für unsere Impfstrategie. Wir in der Medizin sind nicht diejenigen, die entscheiden, ob Lockerungen vorgenommen werden. Vor drei Wochen haben wir klar gesagt, dass wir uns gewünscht hätten, dass der Lockdown bis Ende März fortgeführt wird. Die Politik hat aber Lockerungen eingeführt. Nun sagen wir ganz klar, dass es so gekommen ist, wie wir es vorhergesagt haben: Die Leute infizieren sich weiterhin, als Ergebnis der Lockerungen. Man wird nun Entscheidungen treffen müssen, die keinem gefallen werden. Man wird bestimmte Sachen wieder zurücknehmen müssen.

Was wäre denn in diesem Moment die Lösung? Wie müssen wir uns verhalten, damit wir den Trend irgendwie abbremsen können?

Wir haben zu wenige Impfungen im Lande. Das heißt, sie helfen uns im Moment nur bedingt. Also müssen die Maßnahmen umgesetzt werden, die wir haben. Mit der Einschränkung der Kontakte kann man zumindest die Ansteckungsrate zurückfahren. Etwas anderes kann man im Moment nicht anbieten. Ich kann nicht beurteilen, was Schulöffnungen für das Infektionsgeschehen bedeuten, dazu gibt es weltweit und europaweit zu wenige Daten. Dass aber ein mittelbarer oder unmittelbarer Zusammenhang besteht zwischen der Öffnung von Geschäften sowie vermehrten Kontakten und ansteigenden Infektionszahlen, das ist doch bewiesen.

Wo werden wir in fünf Wochen stehen?

Wenn die Modellierungen so stimmen und wir mit der Öffnungsstrategie so weitermachen wie bisher, dann wird es einen Anstieg der Infektionszahlen geben. Das Robert-Koch-Institut hat das berechnet: 30.000 Neuinfektionen pro Tag. Das zieht in der Folge auch schwere Krankheitsverläufe nach sich. Das ist natürlich eine erhebliche Belastung. Auf der anderen Seite gibt es aber auch erhebliche Belastungen für die Bevölkerung, die diese auch nicht mehr mitmachen will. Dieser Punkt steht gegen eine Fortführung des Lockdowns, den viele Menschen für furchtbar halten - sie können und wollen nicht mehr. Die Politiker sind diesen Rufen gefolgt und haben Öffnungen auf den Weg gebracht. Dann muss man sich aber im Klaren darüber sein, dass das Konsequenzen hat, gerade jetzt, wo wir noch nicht genügend Impfungen haben: ansteigende Infektionszahlen und am Ende auch erhöhte Sterberaten.

Es gibt zwei Strategien. Die einen sagen, wir müssen lernen mit dem Virus zu leben, die andern sagen, wir müssen eine No-Covid-Strategie verfolgen. Welche ist Ihrer Ansicht nach realistischer?

Zu lernen, mit dem Virus zu leben, kann eine Strategie sein, wenn wir endlich alles umsetzen, was uns zur Verfügung steht und viele andere Tools an die Hand bekommen. Allerdings ist so eine Strategie bedenklich, wenn wir Schulen und Kitas öffnen, aber nicht dafür gesorgt haben, dass ausreichend Tests zur Verfügung stehen. Wenn wir aber vernünftige, umfangreiche Teststrategien haben und in der Lage sind, Infektionen so nachzuverfolgen, dass wir relativ rasch Infektionsketten unterbrechen, dann kann man tatsächlich mit dem Virus leben. So ist es ja aber nicht.

Und die andere Seite?

Diese stringente No-Covid-Seite wird sich nicht durchsetzen können. Es wird daran scheitern, die Isolationsmaßnahmen einer grünen Zone, in der es keinen Virus mehr gibt, nach allen Seiten abzusichern gegenüber infektionsbelasteten Regionen. Das scheint mir sehr schwierig zu sein. Da gebe ich Gesundheitsminister Jens Spahn Recht, der immer schon gesagt hat, dass das in Deutschland schwierig ist. Wir sind umgeben von Zonen mit hoher Infektionsgefahr.

Noch ein Wort zu den Menschen in der Pflege. Zum Mangel an Fachpersonal kommt auch noch ein Abgang hinzu. Wie beurteilen Sie das?

Das wundert uns nicht, darauf haben wir seit Jahren hingewiesen. Die Widerstandsfähigkeit der Mitarbeiter im Gesundheitswesen ist an eine Grenze geraten. Und wenn wir jetzt so weitermachen und eine dritte Welle erleben, nimmt diese Belastung nochmals zu. Die Leute sind nicht einfach müde, sie können zum Teil nicht mehr und das Schlimme ist: Sie wollen dann auch nicht mehr. Alle guten Maßnahmen der letzten anderthalb Jahre verpuffen angesichts dieser Gesamtsituation. Dass nun Menschen diesen Beruf verlassen, wird die Situation noch verschlimmern.

Mit Uwe Janssens sprach Katrin Neumann

Quelle: ntv.de

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