Panorama

Rückzug ins Private Wie Deutsche auf die Dauerkrise reagieren

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Verbinden oder Spalten? Die Deutschen sind auf keinem so guten Weg, meint der Psychologe Grünewald.

Verbinden oder Spalten? Die Deutschen sind auf keinem so guten Weg, meint der Psychologe Grünewald.

(Foto: picture alliance / CHROMORANGE)

Pandemie, Ukrainekrieg, Rezession: Die Krise ist zu einem dauerhaften Zustand geworden. Viele Menschen in Deutschland ziehen sich deshalb ins Private zurück. Aber kann das gut gehen? Der Psychologe Stephan Grünewald hat Antworten und erklärt, warum die AfD profitiert.

Amerikaner und Franzosen feiern ihren Nationalfeiertag mitten im Sommer, der Tag der Deutschen Einheit dagegen fällt in den Herbst. Die Urlaubstage sind aufgebraucht, die dunkle Jahreszeit steht bevor. Das sind keine idealen Voraussetzungen für ausgelassene Partystimmung.

Und dieses Jahr ist die Gefühlslage der Nation besonders schwierig - so jedenfalls analysiert es der Psychologe Stephan Grünewald in seinem Buch "Wir Krisenakrobaten - Psychogramm einer verunsicherten Gesellschaft", das am 9. Oktober erscheint. Grundlage seines Buchs sind sowohl quantitative Studien des Kölner Rheingold-Instituts als auch tiefenpsychologische Interviews.

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"Wir stellen fest, dass seit der Corona-Zeit die Bedeutung der Jahreszeiten zugenommen hat", sagt Grünewald. "In der Corona-Zeit war der Sommer immer eine Zeit der Befreiung, in der die Lockdowns aufgehoben wurden und man wieder nach draußen konnte. Jetzt, angesichts von Dauerkrisen wie Ukrainekrieg und Wirtschaftsflaute, öffnet der Sommer ein Fenster der Selbstvergessenheit. Man fährt in den Urlaub, schiebt die Sorgen weg, verwöhnt sich." Und dann ist plötzlich der Alltag wieder da: "Mit dem Herbst haben wir den Einbruch der düsteren Probleme und Drohkulissen."

Die Krise als Dauerzustand

Corona, Ukrainekrieg, Energiekrise, Inflation, Rezession, marode deutsche Infrastruktur - die Krise ist zum Dauerzustand geworden. Bei vielen Menschen habe das ein Gefühl der Ohnmacht erzeugt, konstatiert Grünewald. "Das führt dazu, dass man sich ins private Schneckenhaus zurückzieht und zwischen der eigenen Welt und der bedrohlichen Außenwelt einen Verdrängungsvorhang spannt. Diese Minimierung des Gesichtskreises führt zu einer Maximierung der persönlichen Zuversicht."

Mehrere Umfragen, unter anderem vom Allensbach-Institut, haben es in den vergangenen Monaten gezeigt: Die persönliche Lage wird als eher positiv eingeschätzt, während für Staat und Gesellschaft schwarzgesehen wird.

Als Reaktion auf die Dauerkrise setzen viele Deutsche auf die Beschwörung einer so nicht mehr vorhandenen Normalität. Sie haben sich laut Grünewald in einer Art Nachspielzeit eingerichtet und hoffen, das Alte und Vertraute trotz aller Bedrohung noch eine Zeit lang festhalten zu können. Dies erkläre etwa den derzeitigen Retro-Trend in Film und Fernsehen: Dort werden Geborgenheitserfahrungen der 70er und 80er Jahre recycelt. Grünewald glaubt: "Der Blick in den Rückspiegel kaschiert eine diffuse Endzeitstimmung."

Verschanzung in der persönlichen Wagenburg

Damit einhergehend diagnostiziert der Psychologe eine Verschanzung in streng abgegrenzten Meinungs-Silos. "Unsere private Streitkultur ist praktisch zum Erliegen gekommen. Stattdessen - und das haben wir in vielen Tiefeninterviews gehört - sortieren die Menschen im Bekanntenkreis all diejenigen aus, die eine andere Meinung haben." Das aber sei Gift für die Demokratie.

Und Stichwort Tag der Deutschen Einheit: Grünewald sieht die Nation in einer tiefen Verbundenheitskrise. So hätten in der Rheingold-Studie kürzlich 89 Prozent der Befragten konstatiert, dass die Gesellschaft entzweit sei - von Einheit keine Spur.

Grünewald beschreibt in seinem Buch, wie sich im Zuge der Corona-Pandemie die Gesellschaft in Maskenträger und Maskenverweigerer, in Team Vorsicht und Corona-Relativierer aufspaltete. Aus der unsichtbaren Bedrohung wurde so ein sichtbarer Gegner - ein Muster, das sich nun in anderen Bereichen fortsetze.

Heute spaltet sich die Wirklichkeit je nach Perspektive auf in "grüne Spinner" und "radikale Rechte", in SUV-Besitzer und Fahrradfahrer, in Ossis und Wessis, in Veganer und Fleischesser, in "die da oben" und "wir da unten". Polarisierung wirke hier wie ein verzweifelter Ordnungsversuch: "Sie schafft Fronten, stärkt den inneren Zusammenhalt im eigenen Lager - und macht die andere Seite zum Sündenbock."

Lachender Dritter ist die AfD

Die zentrale These in Grünewalds Buch ist, dass all dies zu einer "gestauten Bewegungsenergie" führt. Die Deutschen haben demnach im Prinzip durchaus noch die erforderlichen Kraftreserven, um Probleme anzugehen und zu bewältigen - aber diese Energie wird nicht freigesetzt.

"Der Dauerzank in der Ampel hat das Gefühl genährt, dass die Politik sich im Bruderzwist aufreibt und nicht mehr Herr der Lage ist. Und jetzt wiederholt sich das ansatzweise bei der schwarz-roten Koalition, weil man da den Eindruck hat: Die verhaken sich auch. Lachender Dritter ist die AfD."

Bundeskanzler Friedrich Merz und andere Politiker müssten der Bevölkerung nach Überzeugung von Grünewald ehrlich sagen, wie dramatisch die Lage etwa bei der Rentenfinanzierung oder der militärischen Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik aussieht. Und sie müssten ihr dann auch etwas abverlangen.

"Die Bürgerinnen und Bürger spüren unterschwellig, dass sie nicht immer nur Tischlein-deck-dich und Goldesel bekommen können, sondern dass irgendwann auch mal der Knüppel aus dem Sack rausmuss. Das heißt: Es wird nicht ohne Härten abgehen."

Grünewald sieht also eine große brachliegende Sehnsucht nach gemeinschaftsstiftendem Handeln. Das letzte Mal, dass es gelang, das zu aktivieren, war in seinen Augen die Reduzierung des Energieverbrauchs im ersten Winter des Ukrainekriegs 2022/23.

"Da gab es ein klares, sinnvolles Ziel, zu dem jeder Einzelne beitragen konnte. Und es ging gerecht zu, weil man wusste: Der Nachbar stellt auch die Heizung niedriger, die Industrie fährt die Produktion runter, und die Regierung kümmert sich derweil um LNG-Terminals."

Die Deutschen können Solidarität

Einfach nur davon zu reden, dass man Deutschland zukunftsfest machen wolle, ist nach Überzeugung von Grünewald viel zu schwammig, um eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen. "Es muss heruntergebrochen werden auf klare Projekte, mit denen eine Handlungsdirektive verbunden ist. Das ist eine große Herausforderung. Aber denken wir an die Flutkatastrophe von 2021: Wenn die Notwendigkeit zu solidarischem Handeln wirklich greifbar wird, dann ist enorme Kraft und Hilfsbereitschaft vorhanden."

Natürlich müsse man dafür erst einmal aus der Komfortzone herauskommen, und das bedeute zwangsläufig auch Widerstand. "Aber wenn man dann dabei bleibt, überwiegt das befreiende Gefühl, dass die gestaute Energie freigesetzt wird, und man merkt: Aha, ich bin an einem großen Projekt beteiligt. Und dann ist man nicht nur stolz auf das Land, sondern auch auf sich selbst."

Quelle: ntv.de, Christoph Driessen, dpa

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