Lauterbach warnt vor Mangel Wie groß ist die Impfstofflücke wirklich?
15.12.2021, 16:22 Uhr
In den Kühlschränken liegen noch einige Vorräte.
(Foto: dpa)
Ein Satz wie ein Hammerschlag: Wir haben nicht genug Impfstoff, sagt Gesundheitsminister Lauterbach. Die Empörung folgt auf dem Fuß. Ist die Booster-Kampagne in Gefahr? Ein Blick auf die Zahlen zeichnet ein etwas anderes Bild. Zumindest für die kommenden Wochen.
Am Dienstagmorgen zitiert die "Süddeutsche Zeitung" das Bundesgesundheitsministerium mit den Worten, es stehe ausreichend Wirkstoff zur Verfügung, um bis Jahresende das von Kanzler Olaf Scholz ausgerufene Ziel von 30 Millionen Impfungen zu erreichen. Am Abend sagt dann Gesundheitsminister Karl Lauterbach in den "Tagesthemen": "Wir haben einen Impfstoffmangel für das erste Quartal." Was folgt, ist ein Aufschrei bei Medizinern und Politikern, die um die Booster-Kampagne bangen. Doch stimmt das?
Offenbar hat die Inventur der Impfstoffbestände und Bestellungen, die Lauterbach zu seinem Amtsantritt angestoßen hatte, ergeben, dass für das gesamte erste Quartal des nächsten Jahres zu wenig Impfstoff gekauft wurde. So hatte es Lauterbach nach ntv-Informationen zuvor bereits auch schon in der Runde der Landesgesundheitsminister gesagt. Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek gab es genau so wieder.
"Die Mengen reichen nicht, um die Booster-Impfkampagne zu fahren", wurde Lauterbach zitiert. "In dem wichtigen Monat der Boosterkampagne fehlt der Impfstoff. Und die Situation ist im Februar und März nicht besser." Mit dem "wichtigen Monat" ist offenbar der Januar gemeint.
Gewisse Bestände vorhanden
Doch ist diese Befürchtung tatsächlich berechtigt? Auch wenn derzeit bis zu einer Million Impfungen am Tag verabreicht würden, müsste Deutschland mit einem gewissen Polster an Impfstoffen ins neue Jahr gehen. Laut Berechnungen von ntv.de, die auf den Angaben des Bundesgesundheitsministeriums und des RKI basieren, stehen 148.850.048 gelieferten Impfdosen der Hersteller Astrazeneca, Biontech/Pfizer, Johnson & Johnson sowie Moderna, bisher 136.597.989 verabreichte Dosen gegenüber. Das heißt, es müssten mehr als zehn Millionen Dosen vorrätig sein.
Und das zeigen auch die am heutigen Mittwoch nochmals aktualisierten Zahlen des Ministeriums: Demnach lagen in der Kalenderwoche 49 (ab 6. Dezember) rund 16 Millionen Dosen in den Kühlschränken. Abzüglich der beinahe sechseinhalb Millionen Impfungen in jener Woche müssten es zu Beginn der laufenden Woche mindestens neuneinhalb Millionen Dosen sein. Weiter geht aus Ministeriumszahlen hervor, dass bis Jahresende noch gut zehn Millionen Dosen des Biontech-Vakzins und mehr als 30 Millionen Dosen von Moderna ausgeliefert werden.
In Summe stehen also allen an der Impfkampagne Beteiligten damit für die nächsten rund zweieinhalb Wochen bis Jahresende noch rund 50 Millionen Dosen zur Verfügung. Die Unionsfraktion weist genau darauf auch in ihrem heute bekannt gewordenen internen Schreiben hin - und spricht von etwa 34 Millionen Menschen, die noch geboostert werden müssen.
Voraussagen sind schwierig
Bislang wurden maximal 6,4 Millionen Dosen pro Woche verimpft. Inzwischen nimmt das Tempo wieder ab. Diese Entwicklung wird sich angesichts des nahenden Festes und der traditionell stark entschleunigten Zeit zwischen Weihnachten und Silvester eher verstärken, wodurch das 30-Millionen-Ziel verfehlt werden könnte. Bislang sind von den 30 Millionen angepeilten Impfungen mit 20 Millionen gut rund zwei Drittel verabreicht. Doch falls das von Scholz ausgerufene Ziel nicht geschafft werden würde - am fehlenden Impfstoff wird es nicht gelegen haben.
Wenn theoretisch bis zum Jahresende noch wöchentlich fünf Millionen Menschen geimpft würden, ginge Deutschland mit rund 35 Millionen Dosen in den Kühlschränken der Verteilzentren und Arztpraxen ins neue Jahr. Und auch bei einem wieder steigenden Impftempo dürfte das angesichts der bisherigen Erfahrungen für mindestens vier Wochen reichen - eher für mehr.
Was die Zahlen des Ministeriums indes noch nicht zeigen, sind die zu erwartenden Lieferungen in den ersten Wochen des neuen Jahres. Die kämen - wenig verwunderlich - noch zum Bestand hinzu. Doch um diese Zeit ging es wohl Lauterbach.
Wie viel fehlt wirklich?
Laut "Business Insider" zeigen Berechnungen des Ministeriums, dass etwa 30 Millionen Dosen fehlen, um alle Zweitgeimpften zu boostern. Da das Ministerium zudem mit einem Ansturm im Januar und Februar rechne - nicht zuletzt wegen einer möglicherweise dann auch geltenden Impfpflicht -, wäre nach Auffassung der Experten ein Puffer von weiteren 30 Millionen Dosen nötig. Den Schätzungen zufolge betrifft die Pflicht rund 15 Millionen bis 18 Millionen Deutsche, heißt es. Diese benötigten nach geltenden Regeln zwei Dosen für einen vollständigen Impfschutz - ein Booster wäre, wenn überhaupt, erst nach Monaten fällig.
CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge schreibt in seinem unionsinternen Brief, dass aktuellen Zahlen zufolge im ersten Quartal 2022 insgesamt 16 Millionen Impfstoff-Dosen der Hersteller Biontech/Pfizer und Moderna pro Monat zur Verfügung stünden. Bei derzeit rund zwölf Millionen ungeimpften Erwachsenen sei dies ausreichend, um alle Erst- und Zweitimpfungen durchführen zu können.
Und ganz am Ende sollte bei der Schuldzuweisung noch Folgendes bedacht werden: Sowohl die Virusmutation Omikron als auch die Impfpflicht sind vergleichsweise neue Entwicklungen. Deutschland dürfte seine Bestellungen bei den Vakzinherstellern eher nicht im Wochentakt einreichen können. Zudem läuft wohl ein Großteil der Bestellungen noch immer über die EU. Und sowohl die besorgniserregende Omikron-Variante als auch der Ampel-Wille zu einer Impfpflicht sind keine seit Monaten absehbaren Entwicklungen - und dürften bei früheren Bestellplanungen keine Rolle gespielt haben. Doch sie haben massive Auswirkungen auf den Impfstoffbedarf.
Quelle: ntv.de, sba/jwu