
"Wir leben oft mit einem fernen Bild vor Augen, wie es dann mal sein wird und gucken gar nicht, was gerade jetzt auch schon toll ist" glaubt die Autorin.
(Foto: IMAGO/Panthermedia)
Diese Frage stellen sich nicht nur Jugendliche, sondern auch 30-Jährige und Endfünfziger. Erst fragt man sich, was man machen soll - und dann irgendwann, was man nicht noch alles hätte machen sollen. Psychotherapeutin Antonia Speerforck hat darüber ein Buch geschrieben.
Sorry, Sie haben jetzt sicher sofort einen Ohrwurm, aber in meinem Kopf plärrt Bono: "But I still haven't found what I'm looking for." Und zwar seit 1987. Schrecklich! Das Lied, aber auch die Aussage. Fand ich immer doof, finde ich immer noch doof, aber warum? Weil es den Finger in meine offene, klaffende Wunde legt. Bin ich da, wo ich sein sollte? Bin ich da, wo ich immer hin wollte? Hat das alles geklappt seit 1987? Immer wieder frage ich mich das. Und nun, wo kaum mehr Platz ist auf der Torte für alle Kerzen, sollte ich doch endlich mal angekommen sein, oder? Also: "Wo ist mein Platz im Leben?", das ist eine wirklich gute Frage, die sich nicht nur Jugendliche stellen, sondern auch 30-Jährige oder Endfünfziger. Erst weiß man nicht, was man machen soll, und dann irgendwann fragt man sich, was man nicht noch alles hätte machen sollen. Psychotherapeutin Antonia Speerforck hat weder die Weisheit mit Löffeln gefressen (Zitat), noch einen Universalratschlag. Aber ein Buch geschrieben hat sie. Ein gutes.
Bin ich angekommen? Sieht von außen so aus, denke ich mir: Job, Kinder, Mann, geile Bude, Urlaube, Hund, Freunde, Familie ... Stopp. Ja, das meiste stimmt, aber es ist nicht alles Gold. Geht ja gar nicht. Ich will an dieser Stelle aber nicht darauf eingehen, was bei mir eventuell schiefgelaufen oder nicht so ist, wie es sein sollte. Ich habe auch nur deswegen einen derart persönlichen Einstieg gewählt, weil Antonia Speerforck das in ihrem Buch so macht. Sie duzt die Lesenden, und ich fühle mich gleich angesprochen.
Speerforck garniert ihre Kapitel mit Ausrissen aus Songtexten - herrlich, ich kann mich super damit identifizieren. Sie schreibt: "Ich bin Mitte 30 und auf einem guten Weg." Schonmal gut, das habe ich damals auch gedacht. Dann mal wieder eine Weile nicht, und dann immer wieder. Die Sehnsucht danach, anzukommen - das schreibt sie auch - ist riesig. Einen Platz zu finden, Ruhe zu haben. Aber da werde ich schon wieder unruhig, haha. Ruhe. Wer will denn immer Ruhe? Na ja, immer dann, versuche ich mir zu erklären, wenn man genug Aufregung hatte.
"Mamaaaaaaaaa!!"

Wenn man darauf warte, dass man mit allen Aspekten des eigenen Lebens zufrieden ist, dann könne man lange warten, findet Speerforck.
(Foto: privat)
Speerforck fragt sich zum Beispiel, und damit beweist sie, dass sie, wie gesagt, zwar nicht allwissend, aber doch ganz schön gut im Thema ist - kein Wunder, sie ist Psychologin, Juristin, Mutter, Tochter, Ehefrau, Freundin und noch ein paar Dinge mehr. Sie fragt sich daher unter anderem, ob sie ihrer Mutter mit all ihren Zweifeln und Ängsten, die sie als jüngerer, aber durchaus bereits erwachsener Mensch umgetrieben haben, nicht ganz gehörig auf die Nerven gegangen ist. Und nicht nur die Antonia, auch die Psychotherapeutin Speerforck möchte dann diese "Mama-Stimme" hören, die ihr eine Lösung anbietet oder zumindest Trost gibt. Letztendlich ist es aber so: Sie hat nun endlich das Buch geschrieben, das sie vor Jahren gern gelesen hätte. Und das macht sie zu einer äußerst vertrauenswürdigen Komplizin in Sachen "Platz finden". Auch für sich selbst.
Ein gutes Beispiel: Früher hat man sich mit seinen Klassenkameraden verglichen. Heute vergleicht man sich mit der ganzen Welt, bereits als Schülerin oder Schüler. Dank TikTok und Instagram. Ja, toll, man weiß also, was die Leute aus dem Austauschjahrgang in Kalifornien oder England jetzt machen, dass bei ihnen Tag ist oder besseres Wetter, dass sie die coolere Party feiern, aber man selbst ist eben nicht da. Das heißt, man fühlt den Schmerz, nicht an diesem Ort zu sein, anstatt einfach zu genießen oder mindestens zu akzeptieren, dass es bei einem gerade auch ganz schön ist. Dass die Party HIER auch cool ist. Und das geht nicht nur jungen Leuten so. Seitdem jeder bereits im Urlaub postet, dass er oder sie im Urlaub ist, fühlen sich Daheimgebliebene aller Länder einfach mies. Es regnet vor dem Fenster, und die Tennisfreundin ist auf den Seychellen in kurzen Hosen? Shit! Warum bin ich hier und sie dort? Dabei vergesse ich fast, dass ich es manchmal liebe, wenn es vor dem Fenster regnet und ich endlich drinnen alles machen kann, was ich schon lange machen wollte. Denn aufgrund der Klimaerwärmung war es bis Ende Oktober so warm, dass ich IMMER nur draußen sein wollte. Leider nehme ich aber die anderen besser wahr als mich und muss mir daher mantraartig sagen: "Es ist gut, wie es ist."
Mein persönlicher Pessimist

Sich zu akzeptieren, das ist der Anfang. Und nein sagen - das müssen sehr viele Menschen neu erlernen!
(Foto: IMAGO/Addictive Stock)
Speerforck schreibt wie eine Freundin, zum Beispiel: "Lass dich nicht blenden von meinem Beruf. Du brauchst nicht noch mehr Druck!" Sie nimmt uns an die Hand, und ganz nebenbei macht sie uns darauf aufmerksam, dass wir aus vielen Teilen, aus vielen Personen bestehen, und nichts daran falsch ist. Sie ermutigt uns sogar, die weniger coolen Teile von uns zu akzeptieren, gar zu lieben, sie aus dem Schatten zu holen. Das mach' ich jetzt gleich mal. Moment. Ah, da ist er ja, der Pessimist. Niemand denkt, dass ich einen Pessimisten in mir habe, weil mein Glas schließlich immer halb voll ist. Aber dieser Pessimist (er ist männlich, warum auch immer) warnt mich manchmal vor Dummheiten oder Übermut, vor Leichtfertigkeit und ja, auch vor allzu überbordendem, fast schon blödem Optimismus. Speerforck weiß: Menschen sind vielschichtiger als die Schubladen, in die wir andere und uns selbst stecken.
Ich weiß nach der Lektüre jetzt endlich, dass ich mich gar nicht entscheiden muss: Ich kann Großstadt- und Landkind gleichzeitig sein. Ich darf die Spießerin in mir entdecken und den Hippie existieren lassen, ich kann Familienmensch sein und trotzdem sagen: "Ach nee, Leute, das wird mir jetzt zu viel." Antonia Speerforck rät dazu, an sich zu arbeiten, ja, aber nicht mit zu viel Druck, denn das hieße schon wieder, dass man gegen sich kämpft. "Das ist das Gegenteil von Liebe, Vertrauen und Flow", findet sie. Und deswegen hat sie dieses Buch geschrieben, über ankommen und unterwegs bleiben.
Dilemma gelöst dank Tetralemma
Es geht in "Wo ist mein Platz im Leben" auch um Scham, ein höchst unangenehmes Gefühl, mit dem sich die Autorin (des Buches) auskennt, es geht um das, was uns zurückhält, und es geht um den Scheinriesen Angst. Sie gibt Anleitungen, wie wir gute Entscheidungen treffen könnten. Einiges davon kommt Ihnen vielleicht bekannt vor, aber Sie haben es mittlerweile vergessen: So etwas wie den guten, alten Zettel. Einfach vier Zettel nehmen, und für die aktuelle Fragestellung zu einem Thema vier Antwortmöglichkeiten aufschreiben: "A", oder "B"? Vielleicht sogar: "A und B", oder doch lieber: "Weder noch, C". Speerforck nennt das "Tetralemma", und fordert auf, verschiedene Optionen durchzuspielen, indem man sich tatsächlich auf die jeweiligen Zettel stellt. Jawohl, mit Schuhen oder barfuß. Noch mehr Info würde jetzt zu weit führen. Lesen Sie Seite 182, sehr empfehlenswert. Es könnte kribbeln bei Ihnen.
Quelle: ntv.de