Proteste in Bulgarien"300 maskierte Männer in schwarzen Trainingsanzügen"

Lexi Fleurs ist eine bulgarische Künstlerin, Journalistin und Filmemacherin, die unter anderem einen Dokumentarfilm über den Krieg im ukrainischen Donbas dreht. Während der jüngsten Proteste in Bulgariens Hauptstadt Sofia gründet sie eine Freiwilligeneinheit namens "Kukeri" - benannt nach mythologischen Wesen, die böse Geister vertreiben. "Kukeri" kümmert sich um die Erstversorgung von Verletzten, holte Menschen, die Hilfe brauchen, aus der Menge evakuierte. Im Interview mit ntv.de berichtet Fleurs von schweren Verletzungen durch überforderte Einsatzkräfte und von einem Mob von Hunderten Maskierten, die sowohl die protestierende Menge als auch die Polizei attackierten. Bulgarien brauche "einen Staat, der nicht länger von einigen wenigen Männern im Hintergrund gesteuert wird", sagt Fleurs und erklärt, was die Demonstranten antreibt.
ntv.de: Die Regierung in Bulgarien ist nach monatelangen Protesten zurückgetreten. Was steckt hinter den Protesten?
Lexi Fleurs: Die Proteste richten sich seit zwölf Jahren gegen Deljan Peewski - eine Figur, die für viele Bulgaren sinnbildlich für das verfestigte Oligarchie-Netzwerk im Land steht. Peewski begann 2013 als Direktor der Sicherheitsbehörde DANS, stieg rasant auf und gilt heute als jemand, der im Hintergrund Politik, Justiz, Wirtschaft und große Teile der Medien lenkt und beeinflusst. Offiziell führt er lediglich eine Partei, doch in der öffentlichen Wahrnehmung steht er über allen Institutionen. Viele sehen ihn als oligarchischen "graue Eminenz".
Sein Rücktritt und seine Inhaftierung sind die zentralen Forderungen. Ein Spottlied über seinen Sturz wurde zum Sommerhit, eine Installation, die ihn als übergroßes Schwein darstellte, wurde zum visuellen Symbol des Widerstands. Zugleich richtet sich der Ärger gegen Ex-Premier Boyko Borissow, der lange eng mit Peewski kooperierte und im In- und Ausland eine ambivalente Figur geblieben ist. Viele Deutsche kennen ihn wegen seiner Nähe zu Angela Merkel und Ursula von der Leyen.
Wie kam die europäische Unterstützung für ihn in Bulgarien an?
Von der Leyens öffentliche Unterstützung für Borissow löste in Bulgarien große Empörung aus. Besonders junge Menschen fühlen sich von europäischen Spitzenpolitikerinnen und -politikern im Stich gelassen. Sie haben Borissow über Jahre unterstützt, obwohl er aus Sicht vieler Bulgaren tief in ein korruptes Patronagenetz eingebunden ist. Die Unzufriedenheit hat sich über Jahre angestaut, nun ist sie offen ausgebrochen.
Was löste die jüngste Protestwelle konkret aus?
Der unmittelbare Auslöser war eine Kombination aus politischer Willkür und einem als ungerecht empfundenen Haushaltsentwurf. Seit Juli protestieren die Menschen gegen das Justizsystem, besonders gegen den Generalstaatsanwalt, dessen Amtszeit eigentlich schon abgelaufen war. Trotzdem hielt man ihn im Amt - ein Schritt, den viele als Missachtung grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipien empfinden.
Gleichzeitig wurden zwei pro-europäische Bürgermeister verhaftet, ohne dass nachvollziehbare Beweise präsentiert wurden. Der Bürgermeister von Varna landete sechs Monate in Haft, zuletzt im vier Wochen im "Karzer", bis das Europäische Parlament einschritt. Ein stellvertretender Bürgermeister aus Sofia saß bis vor Kurzem ohne belastbare Anklage in Haft. Diese Fälle galten vielen als politische Machtdemonstration und als Warnsignal, wie leicht unliebsame Kritiker mundtot gemacht werden können.
Warum die Empörung um den Haushaltsentwurf?
Die Regierung plante höhere Sozialabgaben für Arbeitnehmer und kleine Unternehmen, obwohl staatliche Leistungen ohnehin gering ausfallen. Gleichzeitig sollte das Budget der Polizei um 68 Prozent steigen. Bulgarien investiert bereits jetzt überproportional viel in Sicherheitsapparate, während junge Ärzte für existenzsichernde Gehälter demonstrieren. Manche verdienen weniger als Busfahrer. Für viele war das der Beweis, dass die Prioritäten des Systems völlig aus dem Lot geraten sind.
Wer trägt die Proteste?
Die Bewegung ist auffallend heterogen. Junge Menschen prägen die Szenerie, aber ebenso viele Ältere, die schon in den Neunzigerjahren und danach immer wieder demonstriert haben. Ein Mann sagte mir: "Dies ist meine 48. Barrikade - immer an derselben Kreuzung." Das zeigt, wie tief die Frustration reicht.
Die Proteste sind landesweit, in allen größeren Städten versammeln sich Menschen. Gleichzeitig fanden Demonstrationen bulgarischer Diaspora-Gruppen in Europa statt: in Berlin, Amsterdam und London. Offiziell angemeldet werden viele Kundgebungen von einer pro-europäischen Oppositionspartei, doch die Teilnehmenden sind weit vielfältiger. Die Menschen kommen, weil sie an die Sache glauben.
Sie haben die Freiwilligengruppe "Kukeri" gegründet, benannt nach den mythologischen Figuren, die den Winter und böse Geister vertreiben sollen. Ihr Team kümmert sich um die Verletzten, evakuiert und bringt sie zu Stabilisierungspunkten. Wie kam es dazu?
Eigentlich aus einer Notsituation heraus. Bei einer großen Demonstration begleitete ich journalistische Kolleginnen und hatte ein Erste-Hilfe-Set und ein Mittel zum Augenreinigen dabei. Als die Lage kippte und Menschen verletzt wurden, merkte ich, dass das niemand allein bewältigen kann. Ich bat Bekannte, einen Aufruf zu teilen, dass wir Freiwillige suchen und ein Training anbieten.
Wir organisierten Crash-Kurse, strukturierten uns in Teams und begannen, Verletzte aus der Menge zu holen und sie an Medizinstudierende weiterzuleiten, die einen improvisierten Versorgungsplatz betreiben. Inzwischen unterstützen uns auch ausgebildete Rettungssanitäter. Heute bestehen wir aus über 30 Personen in klar definierten Gruppen - Beobachtung, Erste Hilfe, Evakuierung, Funkkoordination.
Was geschah an den Nächten mit der heftigsten Gewalt?
Beim Haushaltsvotum blockierten Demonstrierende friedlich die Parlamentszufahrt. Als der Wagen eines pro-russischen Abgeordneten aufgehalten wurde, setzte die Polizei unmittelbar Tränengas ein. Viele Menschen gerieten in Panik, es kam zu Schlägen, Tritten, Verletzten.
Wenige Tage später, am 1. Dezember, folgte die deutlich schwerere Eskalation. Das Stromnetz im Zentrum Sofias fiel plötzlich aus, offenbar wegen Brandstiftung an einem zentralen Verteiler. Aber jeder glaubt hier, dass das kein Zufall ist und die Regierung dahintersteckt. Denn genau in diesem Moment tauchten 200 bis 300 maskierte Männer in schwarzen Trainingsanzügen auf, aggressiv, organisiert wirkend.
Sie warfen selbstgebastelte Bomben, Blend- und Rauchgranaten und Flaschen, attackierten sowohl Polizei als auch Demonstrierende. Einige der Festgenommenen trugen hohe Bargeldsummen mit sich- für uns ein Hinweis darauf, dass sie gezielt angeworben wurden. In der Dunkelheit reagierte die Polizei teils blind, schlug in die Menge und verletzte viele Unbeteiligte. Am nächsten Tag bezeichnete die Regierung die Proteste als "gewalttätig". Für uns eine klare Verdrehung.
Welche Verletzungen sehen Sie am häufigsten?
Vor allem Kopfverletzungen: Platzwunden durch Schläge mit Flaschen, Prellungen durch Schlagstockeinsätze. Zahlreiche Menschen mussten ins Krankenhaus und genäht werden. Dazu kommen schwere Reizgasverletzungen wie Atembeschwerden, Augenreizungen, Kreislaufprobleme. Unsere Teams sind zwar geschult, aber bestimmte Fälle, etwa tiefe Schnittwunden oder komplizierte Fremdkörperverletzungen, müssen Ärzte übernehmen.
Wie ist Ihr Verhältnis zur Polizei?
Es ist ambivalent. Einige Beamte wissen, dass wir helfen, und lassen uns passieren, wenn wir Verletzte evakuieren. Wir haben sogar einem Polizisten Glas aus den Augen entfernt. Andere hingegen bedrohen uns oder versuchen, uns einzuschüchtern. Die Haltung variiert stark zwischen den Einheiten.
Was erwarten Sie nach dem Regierungssturz?
Die Forderungen entwickeln sich noch. Aber eines ist klar: Bulgarien braucht eine klare pro-europäische Richtung, eine Justiz, die unabhängig handelt, und einen Staat, der nicht länger von einigen wenigen Männern im Hintergrund gesteuert wird.
Mit Lexi Fleurs sprach Kristina Thomas