Unter den 69 zu Seehofers 69. Afghane erhängt sich nach Abschiebung
11.07.2018, 13:35 Uhr
Der jüngste Abschiebeflug nach Afghanistan erreichte am 4. Juli den Flughafen in Kabul.
(Foto: imago/Michael Trammer)
23 Jahre war er alt. Acht Jahre lang soll er in Deutschland gelebt haben, zuletzt in Hamburg. Laut Bundesinnenministerium war er dort mehrfach straffällig geworden. Eine Woche nach der Abschiebung wird der junge Mann in einem Hotel in Kabul aufgefunden.
Ein vor einer Woche aus Deutschland abgeschobener afghanischer Asylbewerber hat sich nach der Rückkehr in seine Heimat erhängt. Nach Angaben eines hochrangigen Mitarbeiters im Flüchtlingsministerium in Kabul wurde der 23-Jährige in seiner provisorischen Unterkunft tot aufgefunden. Das Zimmer war ihm von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zur Verfügung gestellt worden. Eine Quelle aus dem Kabuler Büro der IOM bestätigte die Darstellung.
Das Kabuler IOM-Büro ist noch dabei, den Vorfall in Kabul zu untersuchen. Die Leiche des Mannes sei im Spinsar-Hotel aufgefunden worden. Dort gewährt die IOM rückkehrenden Flüchtlingen, die nicht wissen wohin, für einige Tage Unterkunft.
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Der junge Mann stammte aus der nordafghanischen Provinz Balkh und hatte vor seiner Abschiebung acht Jahre lang in Deutschland gelebt. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums (BMI) und aus dem Flüchtlingsministerium in Kabul hatte der junge Mann in Hamburg gelebt. Ein Sprecher der Hamburger Ausländerbehörde teilte mit, der betroffene 23-Jährige sei rechtskräftig wegen Diebstahls, versuchter gefährlicher Körperverletzung, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden. Es hätten noch weitere Strafanzeigen unter anderem wegen Raubes und gefährlicher Körperverletzung gegen den Mann vorgelegen.
Der Afghane war 2011 eingereist und hatte im selben Jahr einen Asylantrag gestellt. Dieser sei 2012 abgelehnt worden. Die dagegen eingereichte Klage sei 2017 mit einem Beschluss des Verwaltungsgerichts zurückgenommen worden, weil sie vom Kläger nicht weiter betrieben worden sei. Kurz danach habe der Mann im März 2017 noch eine Duldung bekommen, weil die Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht vollziehbar gewesen sei. Er sei dann vor einer Woche abgeschoben worden, weil er nun vollziehbar ausreisepflichtig gewesen sei, sagte der Sprecher des Hamburger Einwohnerzentralamts. Der Afghane sei ledig gewesen und habe keine Kinder gehabt.
Kritik von Aktivisten und Flüchtlingsrat
Mit 69 Passagieren hatten Bund und Länder bei dem jüngsten Abschiebeflug aus Deutschland ungewöhnlich viele abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan zurückgeschickt. Allein Bayern hatte 51 Menschen abgeschoben. Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte sich zufrieden über die hohe Zahl der Abgeschobenen geäußert - und die Aktion mit seinem Geburtstag in Verbindung gebracht.
Seehofer hatte wörtlich gesagt: "Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 - das war von mir nicht so bestellt - Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden. Das liegt weit über dem, was bisher üblich war."
Flüchtlingsaktivisten von Pro Asyl und Bayerischem Flüchtlingsrat kritisieren vehement, dass die seit einem schweren Anschlag vor der deutschen Botschaft in Kabul geltende Selbstverpflichtung, nur Straftäter, terroristische Gefährder und sogenannte Identitätstäuscher abzuschieben, weggefallen sei. Selbst "gut integrierte Personen" würden nun abgeschoben.
Jelpke: "Lage dort wird immer schlimmer"
Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke hat nach dem Suizid des Afghanen ein Ende der Abschiebungen in das Land gefordert. "Die Lage dort wird immer schlimmer, aber Deutschland weitet die Abschiebungen aus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das tödliche Folgen hat", sagte die Innenpolitikerin der Linkspartei. "Vor dem Hintergrund dieses Selbstmordes wird die öffentlich geäußerte Freude Seehofers, an seinem 69. Geburtstag 69 Afghanen abgeschoben zu haben, umso widerwärtiger."
"Wer nach Afghanistan abschiebt, tötet", erklärte Jelpke. Seehofer habe "ganz offenbar ein unheilbares Defizit an Mitmenschlichkeit". Es sei höchste Zeit, dass Bundeskanzlerin Angela "Merkel den Mann rausschmeißt".
Schmidt: "Ihr Verhalten ist zum Fremdschämen"
Auch die frühere SPD-Bundesministerin Renate Schmidt wirft Seehofer eine direkte Mitverantwortung am Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer vor. "Menschen wissentlich ertrinken zu lassen wird von Ihnen als Teil der Lösung des Flüchtlingsproblems gesehen. Ab sofort sind die bisher 1400 Toten im Mittelmeer auch Ihre Toten", schreibt die frühere Bundesfamilienministerin und Vizepräsidentin des Bundestages in einem Brief an Seehofer.
"Sowohl dieses Ertrinken lassen als auch das Verfrachten von Menschen in libysche Lager, in denen sie ausgebeutet, vergewaltigt und sogar getötet werden, ist ein Verrat an den Werten, für die wir in Deutschland und Europa stehen", heißt es weiter in dem Schreiben, das der Deutschen Presse-Agentur in München vorliegt. Auch Seehofers Freude über die Abschiebung von 69 Flüchtlingen nach Afghanistan an seinem 69. Geburtstag in der vergangenen Woche ist laut Schmidt nicht tragbar.
"Mir geht es hier nicht um eine Diskussion über die Rechtmäßigkeit dieser Abschiebung, sondern nur darum, dass bei Ihnen offenbar jeder Anflug von Humanität auf der Strecke geblieben ist. Das Unglück von anderen Menschen kann nie ein Geschenk oder Glück für uns sein", schreibt Schmidt. Das Abschieben von Menschen eigne sich nicht für fade Scherze.
"Ihr Verhalten ist zum Fremdschämen, und ich schäme mich dafür, dass meine SPD aus Gründen der Staatsräson gezwungen ist, mit Ihnen an einem Tisch zu sitzen", heißt es weiter. Seehofer verdiene derzeit weder Ehre für seine Rücktrittsdrohung und das "rüpelhafte Verhalten" gegenüber der Kanzlerin noch dafür, seither "keinen Anlass gesehen zu haben, zurückzutreten".
Quelle: ntv.de, lri/jug/dpa