92 Tote nach Anschlag in Kabul Afghanen durchkämmen die Krankenhäuser
27.08.2021, 17:22 Uhr
Angehörige können sich glücklich schätzen, wenn sie ihre Liebsten lebend in der Klinik wiederfinden.
(Foto: imago images/Xinhua)
Ein junger Afghane weiß, dass sein Bruder zum Kabuler Flughafen aufgebrochen ist. Dann explodieren die Sprengstoffwesten zweier IS-Selbstmordattentäter. Seitdem sucht er die Krankenhäuser der Stadt ab, um den Vermissten zu finden. Lokale Behörden sprechen inzwischen von 92 Toten.
Schluchzend sitzt der Junge auf dem Rücksitz des Autos, eingezwängt neben einem Sarg. Er starrt auf die mit einem weißen Tuch bedeckte Sperrholzkiste und wischt sich mit seinem Schal die Tränen ab. Gerade hat seine Familie den Toten in einem Kabuler Krankenhaus in Empfang genommen - eines der mehr als 80 Opfer des Anschlags vor dem Flughafen von Kabul am Donnerstagabend.
Dutzende Menschen belagern die Klinik der Hilfsorganisation Emergency auf der Suche nach ihren Angehörigen. Abdul Madschid hofft seinen Bruder hier lebend zu finden. Obwohl der Elftklässler keine Ausreisepapiere hatte, habe er sich auf den Weg zum Flughafen gemacht, erzählt Madschid. "Er wollte ins Ausland fliegen. Doch seit den beiden Bombenexplosionen ist mein Bruder vermisst", sagt Madschid.
Die ganze Nacht über hat er alle Krankenhäuser der Stadt abgeklappert - "vergeblich". Er habe hunderte Menschen gesehen, die tot oder lebendig eingeliefert wurden. "Ich habe jeden einzelnen mit meinen eigenen Augen gesehen. Mein Bruder war nicht darunter", sagt Madschid. Sein kleiner Bruder sei ein begabter Schüler, erzählt er weiter. Aber unter den radikalislamischen Taliban habe er nicht mehr in seiner Heimat bleiben wollen. "Angesichts der Probleme hier will jeder ins Ausland", sagt Madschid.
Die ganze Nacht durchoperiert
Erschöpft nach einer schlaflosen Nacht sitzen Angehörige in Gruppen auf dem Bürgersteig vor dem Gelände und warten auf Neuigkeiten aus der Klinik. Ein Mann kommt heraus und zeigt auf seinem Handy Fotos eines Verwandten: Der Verletzte liegt im Bett, die Augen geschlossen, das Gesicht bandagiert. Über Twitter informiert das Krankenhaus über die Lage: "Unsere drei Operationssäle haben die ganze Nacht hindurch gearbeitet, die letzte Operation war um vier Uhr morgens." Die Situation sei nach wie vor kritisch.
Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) droht Afghanistan zudem bald ein Engpass bei medizinischem Material: "Wir haben nur noch für wenige Tage Vorräte und prüfen alle Möglichkeiten, mehr Medikamente ins Land zu bringen", sagte Rick Brennan, der WHO-Notfalldirektor in der östlichen Mittelmeerregion am Freitag. Zudem verließen viele medizinische Fachkräfte das Land, Ärztinnen und Pflegerinnen trauten sich unter den radikalislamischen Taliban nicht mehr zur Arbeit.
Stille am Ort des Anschlags
Am Ort des Anschlags am Flughafen herrscht unterdessen Leere und Stille. Ein paar bewaffnete Wachmänner sind zu sehen, Vögel zwitschern im Sonnenschein. Nur blutbesudelte Kleidungsstücke am Boden erinnern an den Horror des vergangenen Tages.
Bei dem Doppelanschlag am Kabuler Flughafen sind nach jüngsten Angaben insgesamt mindestens 92 Menschen getötet worden. Es gebe mindestens 79 Todesopfer in den Krankenhäusern der Stadt, sagten zwei frühere Mitarbeiter des afghanischen Gesundheitsministeriums. Unter den Opfern seien viele Frauen und Kinder. Mehr als 150 Menschen seien verletzt worden, hieß es am Vormittag. Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums wurden bei dem Doppelanschlag auch 13 US-Soldaten getötet und 18 weitere verletzt.
Quelle: ntv.de, mau/AFP