Politik

Hunderttausende feiern in SyrienAl-Scharaa fordert Wiederaufbau und verspricht "friedliche Koexistenz"

08.12.2025, 21:09 Uhr
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Übergangspräsident al-Scharaa (2.r.) ließ in Damaskus den Tag auch mit einer Militärparade feiern. (Foto: AFP)

Vor einem Jahr endet das ein halbes Jahrhundert andauernde System Assad in Syrien. Der Diktator flieht. Der neue Machthaber lässt den Tag landesweit feiern und ruft dazu auf, ein neues Land zu gestalten. Doch die Probleme sind weiter zahlreich, die Sicherheitslage ist fragil.

Hunderttausende Menschen feiern in Syrien den ersten Jahrestag des Sturzes der Assad-Herrschaft. Landesweit finden nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Sana Feierlichkeiten, Militärparaden und Kundgebungen statt. Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa sprach in einer Rede von einem klaren Bruch mit der Vergangenheit. Das Land stehe vor einem "neuen Morgen". Die Bevölkerung habe der Übergangsführung nach "Jahren der Unterdrückung und Ungerechtigkeit" ihr Vertrauen geschenkt. Syrien habe seine "Würde und Freiheit" zurückgewonnen.

In seiner Rede rief al-Scharaa zum Wiederaufbau des Landes auf. Alle sollten ihre Anstrengungen bündeln, "um ein starkes Syrien aufzubauen, seine Stabilität zu sichern, seine Souveränität zu wahren und eine Zukunft zu gestalten, die den Opfern seines Volkes gerecht wird", sagte er und verkündete einen Neubeginn auf der Grundlage von "Gerechtigkeit" und "friedlicher Koexistenz". Zugleich sicherte er eine "dauerhafte Abkehr von der Ära der Tyrannei" zu.

Am zentralen Umajaden-Platz in der Hauptstadt Damaskus kamen seit dem seit den frühen Morgenstunden Zehntausende Menschen zusammen. Mit Fahnen, Musik und Sprechchören feierten die Menschen das "erste Jahr der Befreiung". Teilnehmer beschrieben den Tag als "historisch". Am Vormittag wurde dort eine Militärparade abgehalten. Al-Scharaa erschien in Militärform, salutierte den vorbeiziehenden Einheiten und würdigte staatlicher Medien zufolge die Soldaten, die an den Kämpfen beteiligt gewesen waren.

"Dieser Tag ist wie kein anderer in der Geschichte Syriens", sagte einer der Anwesenden. Die Freude der Menschen sei überwältigend. Ein weiterer Teilnehmer ist aus Aleppo angereist, um die Militärparade zu sehen. "Diese Kämpfer – unter ihnen mein Sohn – und die Waffen, die dort präsentiert wurden, sind ein Stolz für alle Syrer", sagte er. "Was im Laufe des vergangenen Jahres passiert ist, scheint wie ein Wunder", sagte der Arzt Ijad Burghol und verwies auf die Rückkehr der syrischen Führung auf die internationale Bühne. Zwar fehlten nach Jahren des Kriegs und wirtschaftlicher Krise noch grundlegende Dinge wie eine stabile Stromversorgung, für ihn persönlich sei aber Frieden im Inneren am wichtigsten, betonte der 44-Jährige.

Vor einem Jahr wurde Langzeitmachthaber Baschar al-Assad von einer Rebellenallianz gestürzt. Damit wurde eine mehr als 50-jährige Herrschaft der Assad-Familie über Syrien beendet. Assad, der Syrien jahrelang mit eiserner Hand regiert und in einen fast 14 Jahre dauernden Bürgerkrieg gestürzt hatte, floh daraufhin nach Russland. Der Bürgerkrieg hatte 2011 mit friedlichen Protesten begonnen, die gewaltsam niedergeschlagen wurden. Bis zu Assads Sturz wurden mehr als eine halbe Million Menschen getötet und Millionen von Menschen vertrieben. Übergangspräsident wurde der HTS-Anführer al-Scharaa, der sich seit seinem Amtsantritt im Januar um ein moderateres Image und internationale Anerkennung bemüht.

Die kurdisch geführte Selbstverwaltung im Norden und Osten Syriens sprach unterdessen ein Verbot für öffentliche Veranstaltungen und Menschenansammlungen am 7. und 8. Dezember aus. Das Abfeuern von scharfer Munition und Feuerwerk anlässlich des Jahrestages sei untersagt. Zur Begründung verwies die Verwaltung auf die aktuelle Sicherheitslage. Terrorzellen könnten das Datum ausnutzen, um Anschläge zu verüben und die Stabilität in der Region zu gefährden. Die ebenfalls kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die auch weiterhin Differenzen mit der neuen Regierung in Damaskus haben, bezeichneten den Sturz Assads als "historische Chance" für einen grundlegenden politischen Neubeginn in Syrien.

Al-Scharaa erreichte zwar eine Aufhebung von Sanktionen, steht aber noch vor anderen riesigen Herausforderungen: Viele Städte und Dörfer in Syrien sind immer noch schwer zerstört, auch der Wiederaufbau der Infrastruktur kommt nur schleppend voran. Das Land ist nach dem Bürgerkrieg weiterhin tief gespalten, die Sicherheitslage ist fragil. Al-Scharaas Regierung ist immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, Minderheiten wie Alawiten, Drusen oder Kurden nicht ausreichend zu schützen.

Im März waren bei Massakern in den vorwiegend von Alawiten bewohnten Regionen im Westen Syriens mehr als 1700 Menschen getötet worden. Im Juli gab es in der südlichen Provinz Suwaida zudem heftige Kämpfe zwischen der Minderheit der Drusen und sunnitischen Beduinen mit mehr als tausend Toten.

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, forderte die syrische Führung zum Jahrestag auf, eine Nation zu schaffen, in der alle Syrer "sicher, gleichberechtigt und in Würde leben können". Er erklärte: "Was vor uns liegt, ist weit mehr als ein politischer Übergang; es ist die Chance, zerstörte Gemeinschaften wieder aufzubauen und tiefe Spaltungen zu heilen."

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International erklärte, die Reaktion der neuen Regierung auf die "schweren Menschenrechtsverletzungen seit ihrem Amtsantritt" sei ein "entscheidender Test für ihr Engagement für Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit".

Bislang sind laut dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen mehr als drei Millionen Syrer aus Nachbarländern oder innerhalb des Landes in ihr Heimat zurückgekehrt. Es würden "dringend mehr finanzielle Mittel benötigt werden, um die Wiederherstellung und den Wiederaufbau zu intensivieren". Zehntausende Menschen werden weiterhin vermisst, viele von ihnen verschwanden in den Gefängnissen des ehemaligen Regimes, während Familien auf Gerechtigkeit für die Gräueltaten der Assad-Ära warten.

Quelle: ntv.de, jwu/dpa/AFP

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