Politik

Syrischer Arzt über Folteropfer"Ich wusste, von Etage 1 würden sie nicht lebend zurückkehren"

08.12.2025, 16:51 Uhr UnbenanntVon Frauke Niemeyer
DAMASCUS-SYRIA-DECEMBER-11-EDITOR-S-NOTE-Image-depicts-death-People-searching-for-missing-family-members-gather-outside-at-Al-Mujtahid-Hospital-to-identify-bodies-who-were-tortured-to-death-by-the-Assad-regime-in-Damascus-Syria-on-December-11-2024-The-bodies-of-people-who-appear-to-have-been-tortured-to-death-by-the-ousted-regime-of-Bashar-al-Assad-in-Syriaresponsible-for-torturing-hundreds-of-thousandshave-recently-been-discovered-Around-40-bodies-showing-clear-signs-of-torture-were-found-in-body-bags-at-the-Harasta-military-hospital-morgue-and-were-later-transferred-to-Al-Mujtahid-Hospital-for-autopsies-Efforts-to-identify-the-victims-are-ongoing-Photographs-of-the-bodies-are-being-displayed-on-the-walls-Relatives-initially-try-to-identify-the-victims-from-these-images-then-go-inside-the-morgue-to-search-for-their-loved-ones-among-the-tortured-bodies
Nach Ende des Assad-Regimes suchten Angehörige mit Bildern nach ihren verschwundenen Lieben. (Foto: Anadolu via Getty Images)

Als Assad noch in Syrien an der Macht war, musste Dr. Heshma falsche Totenscheine unterschreiben. Über die Folteropfer wurde Buch geführt. Noch sind viele Wunden offen von damals, aber Syrien versucht den Neunanfang.

Zentralkrankenhaus Damaskus, Notaufnahme. Drei Jahre lang, 2012 bis 2015, ist hier der Arbeitsplatz von Anas Heshma, einem jungen Intensivmediziner. Drei Jahre, in denen immer wieder Sicherheitskräfte des syrischen Regimes in die Station für Erstversorgung kommen. Baschar al-Assad, der syrische Diktator, führt Krieg gegen das eigene Volk, lässt Tausende seiner Kritiker einkassieren, foltern und verschwinden. Das ist Routine im Syrien jener Jahre. Viele der Todgeweihten damals hat Heshma wohl als letzter lebend gesehen.

"Wenn sie zu uns gebracht wurden, häufig schon bewusstlos, wogen sie zwischen 40 und 50 Kilo. Mit Wunden übersät, oft entzündet. Manchmal war ihnen die Haut schon abgezogen, dann blickte ich auf das nackte Fleisch." Dem Arzt war es nicht erlaubt, die Verwundeten anzusprechen oder zu berühren. Seine Aufgabe - klar umrissen: eine Akte anlegen für "Unbekannt", auf Arabisch majhul. Dazu eine Nummer. "Unbekannt 1 bis Unbekannt 1000 oder 7000, es waren so viele." Heshmas Fähigkeiten als Mediziner waren nicht gefragt, wenn Assads Folterknechte mit einem ihrer Opfer kamen. Sie verlangten von ihm nichts als eine Krankenakte. Dann brachten sie den Gefolterten hoch in die erste Etage. "Ich wusste, von dort wird dieser Mensch nicht lebend zurückkehren."

Eine Kaliumspritze - und das Herz stand still

Die Schreckensherrschaft in Syrien, das Drohen, Foltern, Töten, war Routine. Ein eingespielter Ablauf, es wurde Buch geführt. Das war Heshmas Rolle. Nicht Lebensretter, sondern Buchhalter des Todes. Und wenn er wieder feststellte, dass Kalium-Ampullen aus dem Vorratsschrank der Notfall-Station verschwunden waren, sagte er nichts. Auch wenn er ahnte, dass sie jemand für Etage 1 entwendet hatte. "Setzt man eine Ampulle Kalium in eine Vene, dann kommt es in der Regel zum Herzstillstand."

Auf diese Art, glaubt Heshma, schieden die Menschen damals im ersten Stock aus dem Leben. Und wenn dort wieder jemand gestorben war und auf dem Totenschein "Herzversagen" stand oder "Niereninsuffizienz" oder "Schlaganfall", dann tat er, was Assads Männer von ihm verlangten, wollte er nicht selbst in der ersten Etage landen. Damit hatten sie ihm oft genug gedroht, so sagt er. Heshma unterschrieb den Totenschein.

Der Tag, an dem solche Routinen endeten, an dem Assad die Flucht ergriff, sein Land verließ Richtung Moskau, jährt sich heute zum ersten Mal. Heshma hat die Revolution in Syrien vom Saarland aus erlebt. Dorthin war er 2015 geflüchtet, dort ist er heute Neurologe und arbeitet in der Reha, weil er "das Wort 'Notfall' nicht mehr ertragen kann". Geweint hat er am 8. Dezember 2024, als das Regime in sich zusammenfiel, und gelacht und gedacht, dass all diese Menschen, für die er die letzte Station markierte auf ihrem Weg in den Tod, hoffentlich nicht umsonst gestorben sind. "Für mich sind sie keine Opfer, es sind Märtyrer", sagt Heshma heute im Gespräch mit ntv.

Nun ist seit einem Jahr das Assad-Regime Geschichte. Doch die Menschen, die es gestützt haben, sind weiterhin da und mit ihnen diese unermessliche Schuld. Auf mindestens 170.000 schätzt man die Zahl der Menschen, die noch immer vermisst werden in Syrien, über deren Schicksal niemand etwas weiß. Unbekannt 1 bis Unbekannt 170.000.

Sie werden nicht mehr am Leben sein, verscharrt irgendwo. Immer wieder entdeckt man Massengräber mit Folteropfern aus jenen Jahren. Wie soll Syrien gesunden, Heimat werden? Gemeinsam wieder aufgebaut und bewohnt von den Hunderttausenden, die um ihre verschwundenen Lieben trauern, und denjenigen, die diese Lieben gefangen hielten, hungern ließen, Zigaretten auf ihrer Haut ausdrückten und schließlich - das Kalium in die Spritze zogen.

"All das, was viele kaum glauben können, ist wahr"

All diese Verbrechen müssten verfolgt werden, die Täter ermittelt, verhaftet, vor Gericht gestellt. Aber woher soll Syrien die Ressourcen nehmen, wenn das halbe Land in Trümmern liegt? "Die Übergangsjustiz steht noch ganz am Anfang", sagt Thomas Volk, Syrienexperte der Konrad-Adenauer-Stiftung, nach einem Besuch in Damaskus. "Die Zivilgesellschaft fordert eine Aufarbeitung dieser Taten der Vergangenheit, doch bisher sind noch keine Verfahren eingeleitet. In den nächsten Monaten muss das beginnen."

Noch passiert also nichts. Noch können die Angehörigen der Verschwundenen froh sein, wenn sie ihren Vater, die Tante, das Kind auf irgendeinem Foto wiedererkennen, das etwa im Damascus Dossier enthalten ist. Eine Festplatte ist das, kürzlich erst aufgetaucht und NDR, WDR und der Süddeutschen zugespielt. Ein Oberst mitten aus Assads Machtapparat hatte sie am 8. Dezember in den Wirren des Regimesturzes an sich genommen und versteckt. Darauf gespeichert: 70.000 Bilder von Leichen.

"All das, was viele Menschen kaum glauben können, diese Bilder, die Verbrechen, das Foltersystem, sind wahr", sagt Anas Heshma. "Sie helfen, um die Mentalität einer solchen Diktatur zu verstehen."

Mit dieser schweren Bürde auf den Schultern hat sich Syrien vor einem Jahr auf den Weg gemacht. "Die Übergangsregierung muss das Land wirtschaftlich wiederbeleben, die Schäden des Bürgerkriegs beseitigen, das Land wiederaufbauen und die Sicherheit wiederherstellen", sagt Volk. Vor allem die Sicherheit ist eine offene Flanke. Präsident Ahmed al-Scharaa ließ zum Jahrestag in Damaskus eine Militärparade an sich vorbeiziehen. Ein Symbol seiner Macht, die in Wirklichkeit fragil ist.

Al-Scharaa und seiner Regierung fehlt die Kontrolle über das ganze Land. Der Präsident versprach Schutz und Bürgerrechte für alle Minderheiten, für die Angehörigen unterschiedlicher Religionen im Land. Doch dann kamen die Berichte von Massakern - im März starben 1700 Alawiten gewaltsam im Westen des Landes. Im Juli kämpften Drusen mit sunnitischen Beduinen - mehr als tausend Tote.

20.000 IS-Kämpfer - eine tickende Zeitbombe

Al-Scharaa selbst war ein Kopf der islamistischen Miliz HTS, die vor einem Jahr das verhasste Regime zu Fall brachte. Er nimmt für sich in Anspruch, aus Syrien ein sicheres Land für alle zu machen. Tatsächlich finden Gottesdienste in Damaskus statt, darf man Kirchen neu bauen. Zugleich aber wird die islamische Scharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung erklärt. Wird Syrien also doch ein islamischer Gottes-Staat?

Al-Scharaas HTS-Miliz, entstanden aus etwa 60 Gruppierungen, hat sich aufgespalten. Nur ein kleiner Teil folgt dem Präsidenten, der Rest ist außer Kontrolle. Dazu kommen etwa 20.000 Kämpfer der Terrororganisation Islamischer Staat, inhaftiert in südöstlichen Regionen des Landes. Eine Art Sicherheitsverwahrung ist das, mit hohem Aufwand betrieben, "eine tickende Zeitbombe", sagt Thomas Volk.

Umso wichtiger, dass der Übergangspräsident auch von außen kontrolliert wird. "Die Frage ist, ob al-Scharaa nicht in der Lage oder nicht willens ist, die Sicherheit aller zu garantieren", sagt Luise Amtsberg, Nahost-Expertin der Grünen. "Darum braucht es neben Geld für den Wiederaufbau auch Diplomatie aus Deutschland, die sicherstellt, dass der Präsident sich von seiner eigenen Vergangenheit wirklich losgesagt hat und solche Verbrechen nicht einfach geschehen lässt." Amtsberg empfindet die Internationale Gemeinschaft derzeit als sehr wohlmeinend. "Wir müssen alles dafür tun, dass die syrische Übergangsregierung einen demokratischen Weg einschlägt."

Eine Geschichte voller offener Wunden, aktuelle Bedrohungen, und doch scheint so etwas wie Optimismus spürbar zu sein in den Straßen der Hauptstadt. Viele versuchen, etwas aufzubauen, zu verkaufen, einen Stand für Obst, einen Imbiss, irgendwas. Die Mittel sind prekär, der Elan ist da. Und immer wieder blitzt die Vergangenheit auf. Wenn etwa die Gruppe, mit der Volk unterwegs ist, eine Syrerin auf der Straße anspricht. Ob das Gebäude - oben auf einem Berg thronend - der Präsidentenpalast sei, wird sie gefragt. "Ich kann Ihnen das nicht sagen", antwortet die Frau. "Wir haben es nicht gewagt, dort hinauf zu schauen."

Quelle: ntv.de

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