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Asylpolitik spaltet die Grünen Am Samstag kracht es

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Nouripour, Lang, Dröge und Hasselmann sind sich beim EU-Asylkurs so uneins wie die Partei und die Fraktion, die sie führen.

Nouripour, Lang, Dröge und Hasselmann sind sich beim EU-Asylkurs so uneins wie die Partei und die Fraktion, die sie führen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Umfragetief, eine teils handlungsunfähige Ampelkoalition und nun ein tiefgehender Streit über Deutschlands Zustimmung zur Migrationspolitik der EU: Es rumort mehr denn je bei den Grünen. Weil am Wochenende ein wichtiges Partei-Gremium tagt, kommt es zum unvermeidlichen Showdown.

In einem Punkt sind sich beide Seiten einig: Ein so schlimmer Streit wie dieser hat schon sehr lange nicht mehr bei den Grünen getobt. Und ganz sicher war die Lage für die Partei schon viele Jahre nicht mehr so gefährlich wie in diesem Sommer, in dem sich die Grünen in Umfragen der Einstelligkeit nähern, während die AfD als selbst ernannte Anti-Grünen-Partei Rekordwerte einfährt.

Dabei haben schon die vergangenen zwei Jahre den Grünen sehr viel zugemutet: einen Kanzlerwahlkampf, der die Kandidatin und den Parteiapparat überforderte, Koalitionsverhandlungen mit schmerzhaften Zugeständnissen an die FDP, die massive militärische Unterstützung der Ukraine, die Reaktivierung von Kohlekraftwerken und die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke in der Energiekrise, die Zustimmung zum Abbaggern Lützeraths und zuletzt einen aufgeregten Streit ums Heizungsgesetz. Der in den vergangenen Tagen ausgebrochene Zwist über die Migrationspolitik bringt ein Fass zum Überlaufen, das schon länger randvoll war.

Ein Deal, viele Deutungen

"Der Konflikt ist auf jeden Fall noch größer als Lützerath", sagt Timon Dzienus, Co-Vorsitzender der Grünen Jugend. Die Nachwuchsorganisation hatte schon im vergangenen Herbst beinahe beim Bundesparteitag der Grünen für einen Eklat gesorgt. Ein Antrag der Grünen Jugend gegen den Regierungskompromiss mit RWE, der fünf Dörfer rettete, im Gegenzug aber das Ende von Lützerath besiegelte, wäre trotz eindringlicher Intervention der Parteispitze beinahe erfolgreich gewesen. Wenn am Samstag im hessischen Bad Vilbel der Länderrat zusammenkommt, eine Art kleiner Parteitag, könnte der Aufstand gegen die Parteispitze und insbesondere gegen Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck erfolgreich sein - und die Konflikte in der Ampel abermals verschärfen.

Stein des Anstoßes ist die Ende vergangener Woche getroffene Vereinbarung der EU-Mitgliedsländerregierungen zur Reform der EU-Migrationspolitik. Dieser Deal, den Bundesinnenministerin Nancy Faeser von der SPD einen "historischen Durchbruch" nannte, wird in den Reihen der Grünen sehr unterschiedlich gedeutet. Der linke Parteiflügel sieht hierin nicht weniger als eine Abschaffung des Asylrechts mithilfe einer von den Grünen getragenen Bundesregierung. Die meisten, aber nicht alle Angehören des konkurrierenden Realo-Flügels unterstützen dagegen Baerbocks Lesart vom "schmerzhaften Kompromiss". Zumindest sei es gelungen, die bisherige Spaltung der EU zu überwinden, Migration künftig in geordnetere Bahnen zu lenken und auch andere Staaten entweder an der Aufnahme von Flüchtlingen zu beteiligen oder sie für ihre Weigerung zur Kasse zu bitten.

Längst kursieren in der Partei widerstreitende Erzählungen: Das Auswärtige Amt habe Fraktion und Parteispitze vor der Entscheidung in falscher Sicherheit gewogen, dass Deutschland keiner Verschlechterung der Flüchtlingsrechte zustimmen werde. Dort ist man sich keiner Schuld bewusst: Die Einigung in Brüssel sei sehr kurzfristig zustande gekommen, bringe zudem sehr wohl Verbesserungen und sei allemal besser gewesen, als eine Einigung platzen zu lassen.

Der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt, ein vor allem bei Parteilinken geschätzter Kämpfer für Geflüchteten-Rechte, verbreitet seit Tagen unter anderem auf Twitter seine Interpretation des EU-Deals: Kinder dürften in haftähnlichen Verhältnissen im EU-Grenzverfahren festgehalten werden, das Grenzverfahren drohe auch Geflüchteten mit sehr guten Bleibechancen wie Syrern und Afghanen, es gebe keine verbindliche Regelung, die alle EU-Staaten zur Aufnahme von Migranten verpflichtet.

"Inhaltsentkernung aus Angst"

"So wird Moria zum europäischen Standard", warnt Dzenius mit Blick auf das hochumstrittene griechische Flüchtlingslager, wo bis zum Brand im Jahr 2020 bis zu 20.000 geflüchtete Männer, Frauen und Kinder hausten. Basis-Grüne belegten die Vereinbarung der 27 EU-Regierungen in sozialen Medien schonmal mit Schimpfwörtern, doch auch Abgeordnete der Partei verwünschen den unter anderem von Baerbock ausgehandelten Kompromiss hinter vorgehaltener Hand.

Von einer "krassen Stimmung" in der Partei berichtet eine Abgeordnete, die eigentlich zu den Unterstützerinnen der Außenministerin zählt. Der Deal sei eine "Inhaltsentkernung aus Angst", weil Baerbock und Habeck nach dem Heizungsstreit eine weitere Debatte über "ideologische Grüne" vermeiden wollten. In ihr bekannten Kreisverbänden gebe es jetzt schon mehr Austritte als während des Streits um Lützerath. Tatsächlich sind viele der neueren unter den 120.000 Grünen-Mitgliedern in den Jahren nach 2015 wegen der Flüchtlingspolitik sowie im Kampf gegen AfD und andere rechtsextreme Kräfte in die Partei eingetreten. Von denen verstünden viele die Welt nicht mehr, ist bei den Grünen zu hören. Rechte von Migrantinnen sind für die Grünen identitätsstiftend geworden.

Die Grüne Jugend wird daher auf dem Länderrat am Samstag einen Antrag stellen, der einen humanitäreren Kurs in der Migrationspolitik fordert, kündigt Dzenius an. Eine Bundestagsabgeordnete sagt, sie wolle, "dass wir auch in Zukunft aus einer starken Position sagen können, dass wir die Partei sind, die sich nicht von Rechtsruck und Populismus treiben lässt. Dazu müssen wir uns eingestehen, dass Deutschland letzte Woche im Rat Fehler gemacht hat." Svenja Borgschulte, Sprecherin der Grünen-internen Bundesarbeitsgemeinschaft Migration und Flucht, äußerte am Wochenende: "Wir müssen Annalena anzählen."

So etwas habe er schon lange nicht mehr erlebt in seiner Partei, sagt ein Vertrauter Baerbocks über den Aufruhr bei den Grünen. Ihm sei das Ziel der Attacken unklar. Baerbock und Habeck, der sich explizit an ihre Seite gestellt hat, schwächen? In einer Lage, in der die grünen Bundesministerinnen ohnehin schon permanenter Kritik ausgesetzt und in eine koalitionsinterne Dauerfehde mit der FDP verstrickt sind: Was solle das bringen?

Eine Aufgabe für die gespaltene Führung

Auffallend ist auch, dass im Streit ums Asylrecht auch erfahrene Parteistrategen den Kabinettsmitgliedern von der Stange gehen. Die eigentlich den Realos zugerechnete frühere Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt gehört ebenso zu den Kritikern des Asyldeals wie die Partei-Linken Jürgen Trittin und der Europa-Ausschussvorsitzende Anton Hofreiter. Die als Reala zählenden Aminata Touré, Landesministerin in Schleswig-Holstein, und die Europaabgeordnete Hannah Neumann rügten die Vereinbarung ebenfalls. Es sind keinesfalls nur die unerfahrenen Jüngeren oder die Linken, die aufbegehren.

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Eine so tiefgreifende Spaltung zu moderieren und zusammenzuführen, ist Aufgabe der Vorsitzenden von Partei und Fraktion. Doch deren Doppelsitzen bilden die Zerrissenheit der Grünen stattdessen selbst ab: Co-Parteichef Omid Nouripour und Co-Fraktionschefin Britta Hasselmann stellten sich auf Baerbocks Seite, Co-Chefin Ricarda Lang und Co-Fraktionschefin Katharina Dröge sind gegen den Deal. Nun blicken Lang und Nouripour, die sich im Herbst voraussichtlich auf eine Wiederwahl als Parteichefs bewerben wollen, am Samstag einem Showdown entgegen: Die Partei muss Dampf ablassen, aus dem Treffen in Bad Vilbel aber geeinter als derzeit wieder herausgehen.

Die Außenministerin, die auch dem erweiterten Führungsgremium des Parteirats angehört, wird selbst anreisen. Sie wird sich erklären, für die Notwendigkeit schmerzhafter Kompromisse werben und die Mehrheit hinter sich und den anderen Grünen-Regierungsmitgliedern zu versammeln versuchen. Zudem ist zu erwarten, dass am Ende ein Leitantrag steht, der der Partei versichert, dass sich die Grünen nicht an einem weiteren Abbau des Asylrechts beteiligen - etwa an der von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigten Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsstaaten auch auf Marokko und Algerien. So könnte die Basis tatsächlich einmal mehr hinter der grünen Regierungsmannschaft versammelt werden. Die muss ihr Versprechen dann aber auch umsetzen - gegen die migrationspolitischen Ziele der eigenen Koalitionspartner.

Quelle: ntv.de

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