Politik

Anne Will zu Russland-Revolte "Angst und Hilflosigkeit bei Putin"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Irina Scherbakowa wertet das lange Schweigen Putins nach der Revolte, während "alle" im Land auf eine Reaktion gewartet hätten, als ein Zeichen für "Panik".

Irina Scherbakowa wertet das lange Schweigen Putins nach der Revolte, während "alle" im Land auf eine Reaktion gewartet hätten, als ein Zeichen für "Panik".

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

"Dieser Putin ist gar nicht unbezwingbar", findet der ARD-Talk bei "Anne Will" heraus. Nach der Revolte der Wagner-Söldner fühlt die Diskussionsrunde den Rissen im russischen Herrschaftssystem auf den Zahn und SPD und CDU zoffen sich. Eine wichtige Frage bleibt aber unbeantwortet.

Meuterei? Revolte? Rebellion? Was auch immer der Aufstand der Wagner-Söldner vor gut einer Woche war, er stellte Wladimir Putins Autorität direkt infrage. Bei "Anne Will" debattiert die Diskussionsrunde am Sonntagabend über die Dimensionen des Marschs der Soldaten von Jewgeni Prigoschin auf Moskau und alle sind sich einig: Der russische Präsident will nun Stärke zeigen, ist aber geschwächt. Doch wie tief sind die Risse in Putins Herrschaftssystem und was bedeutet das für den Krieg in der Ukraine? Dabei gehen die Meinungen durchaus auseinander.

"Es war das erste Mal, dass man bei Putin Angst und Hilflosigkeit sah", sagt Irina Scherbakowa direkt zum Beginn der Sendung. Die russische Historikerin, Gründungsmitglied der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, wertet das lange Schweigen Putins nach der Revolte, während "alle" im Land auf eine Reaktion gewartet hätten, als ein Zeichen für "Panik". Putins Macht habe "mindestens eine Erschütterung" erlitten und das Ganze sei ein "ganz wichtiges Zeichen der politischen und militärischen Krise".

CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen pflichtet der Historikerin sofort bei und spricht von einem "spektakulären Ereignis" und dem "Beginn von Machterosion". Er glaubt, dass in Russland "das System und die Herrschaft nicht mehr dieselbe ist." Und sie werde auch nie wieder so werden wie vorher, denn sie habe auf dem Anspruch beruht, nicht herausgefordert werden zu können. Nun habe jedoch die ganze Welt, darunter auch das russische Volk, gesehen: "Dieser Putin ist gar nicht unbezwingbar." Röttgen geht sogar noch weiter und ist sich sicher: "Putin war konfus, war nicht mehr unter geistiger Kontrolle. Er war panisch."

Thumann: Putin hat Schrammen davongetragen

Röttgens SPD-Kollege im Auswärtigen Ausschuss hält sich da stärker zurück. Hat Putin die Kontrolle verloren, möchte Anne Will von Ralf Stegner wissen. Der Außenpolitiker "zweifelt" daran und nennt Ansichten wie die Röttgens "Wunschdenken". Der russische Präsident habe Prigoschin zwar möglicherweise unterschätzt, aber es wäre "klug, Putin nicht zu früh abzuschreiben".

Ähnlich denkt auch Michael Thumann. Der außenpolitische Korrespondent von "Die Zeit" in Moskau erkennt zwar einen "Moment der Schwäche" und glaubt, dass "Putin Schrammen davongetragen hat". Schließlich habe dieser die größte Invasion seit dem 2. Weltkrieg in Russland hinnehmen müssen und das würde die Bevölkerung nicht vergessen. Aber das Fazit des Journalisten, dessen Quellen von nun laufenden Säuberungen von Prigoschin-Sympathisanten hinter den Kulissen berichten, lautet: "Putin ist nicht angezählt. Er steht nicht unmittelbar vor dem Sturz."

Dann kritisiert Stegner, dass "einige meinen", ein indirekter Giftpfeil in Richtung Röttgen, dass die Unsicherheit in Russland durch die Revolte etwas Gutes wäre. Das will der CDU-Mann nicht auf sich sitzen lassen und er greift Stegner direkt an: "Damit gehen Sie dem Narrativ von Putin auf den Leim, dass der Westen Angst haben müsse, dass alles schlimmer werde, wenn er weg sei." Der SPD-Politiker entgegnet verärgert, er sei "weit entfernt" davon, in der Außenpolitik müsse man immer vorsichtig handeln und Putin sei "vielleicht stabiler, als wir uns es wünschen".

"Die Lage ist bereits brandgefährlich"

Stabilität wird sogleich zum Hauptthema der restlichen Sendung. "Wenn die Veränderung keine Verbesserung zum Ist-Zustand ist, wird es brandgefährlich", sagt Stegner. "Die Lage ist bereits brandgefährlich", kontert Claudia Major, denn Krieg sei ja bereits Instabilität. Die Politikwissenschaftlerin, Mitglied im Beirat zivile Krisenprävention des Auswärtigen Amtes, hat in der Runde am meisten Ahnung bei diesem Punkt und macht das deutlich: Deutschland müsse sich endlich von der "Stabilitätsobsession freimachen" und die richtigen Lehren ziehen. "Putin bringt keine Stabilität, sondern Instabilität", sagt Major. Außerdem müsse die Politik aus der "eindimensionalen Eskalationsdebatte" heraus. Es werde immer nur auf die Gefahr von Atomwaffen hingewiesen, aber Russland habe bereits "konventionelle Eskalation" bewiesen, etwa mit dem Beschuss der Zivilbevölkerung.

Insgesamt seien Europa und Deutschland nicht gut genug vorbereitet auf Machtkämpfe in Russland, erklärt Major. Es herrsche vielerorts auch noch die Hoffnung, "dass alles besser wird". Ein schneller und einfacher Wandel sei aber absolut unrealistisch. Es könne einen "Machtwechsel" geben, aber dies sei eben kein Regimewechsel. Auch ein "Kollaps" sei möglich. "Demokratische Veränderung halte ich aber für sehr unwahrscheinlich", so die Politikwissenschaftlerin. Also müsse man sich auf eine "sehr lange Phase der Instabilität und damit auch Unsicherheit in Europa" einstellen.

SPD-Mann Stegner lobt die Bundesregierung

Am realistischsten seien positive Veränderungen in Russland laut Major möglich, wenn Moskau eine Niederlage im Krieg mit der Ukraine erleide. Damit leitet Talkmasterin Will die Runde zum Thema Waffenlieferungen, die der Ukraine nun eine Chance geben könnten, die Risse im System Putins auszunutzen. Und sofort beginnt das parteipolitische Geschacher. SPD-Mann Stegner lobt die Bundesregierung als zweitgrößten Unterstützer der Ukraine weltweit und ringt um erklärende Worte, warum Kiew seiner Meinung nach keine Kampfjets erhalten solle. CDU-Widersacher Röttgen poltert: "Wir sind der zweitgrößte Zwerg", schließlich würden die USA ein Vielfaches an Hilfe liefern.

Dann versucht's Röttgen mit Populismus und stellt fest: "Die Frage ist: Krieg oder Frieden." Stegner fällt nicht viel mehr ein als zu sagen, dass deutsche Interessen nicht identisch mit denen der Ukraine und nicht allein militärische Aktionen wichtig wären. Röttgen geht es daraufhin "über die Hutschnur, dass wir nicht genug tun". Aber Stegner entgegnet, die Regierung tue, was sie könne und man müsse "aufpassen, dass der Krieg sich nicht ausbreitet".

Am Ende bleibt bei "Anne Will" die wichtige Frage, was genau diese Revolte von vor gut einer Woche für die Zukunft bedeutet, unbeantwortet. "Ich wäre vorsichtig im Urteil", sagt Stegner. "Wohin die Machterosion führt? Das wissen wir nicht", meint Röttgen. Journalist Thumann glaubt, dass sich später einmal, "wenn sich wieder Risse im System zeigen", die Russen an diesen "schweren Schlag" für Putin erinnern werden. Dann könnten sich die Risse vertiefen. Prigoschin habe erstmals den Grund des Krieges infrage gestellt, nicht mehr nur die Art der Kriegsführung, stellt Politikwissenschaftlerin Major heraus. Und Historikerin Scherbakowa erkennt immerhin "Anzeichen, dass immer mehr Menschen in Russland gegen den Krieg" sind.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen