Rückzug nach heftigem Beschuss Bericht: Rückeroberung von AKW Saporischschja scheiterte
08.04.2023, 16:20 Uhr Artikel anhören
Das Atomkraftwerk ist noch immer von russischen Truppen besetzt. Seit September 2022 befinden sich jedoch auch Experten der IAEA auf dem Gelände.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Kurz nach Kriegsbeginn gelingt es russischen Truppen, das Kernkraftwerk Saporischschja zu besetzen. In einer Nacht im vergangenen Oktober versuchen ukrainische Elitekräfte offenbar, das Gelände zurückzuerobern. Doch sie treffen auf heftigen Widerstand.
Rund 600 ukrainische Elitekräfte haben im vergangenen Oktober offenbar versucht, das von russischen Truppen besetzte Atomkraftwerk Saporischschja zurückzuerobern. Dies deckte nun ein Bericht der britischen "Times" auf, der die Offensive der Ukrainer rekonstruiert. Der Aussage eines ukrainischen Offiziers zufolge versuchten seine Truppen mit über 30 Booten über den Fluss Dnipro im Süden des Landes zum AKW zu gelangen. Die Offensive scheiterte jedoch wegen des heftigen Beschusses durch die Besatzer.
Kiew hat den Versuch der Rückeroberung bisher nicht offiziell bestätigt. Ukrainische Spezialeinheiten, der militärische Nachrichtendienst des Landes sowie Mitglieder der ukrainischen Marine berichteten laut der "Times" jedoch von der Offensive. Diese startete demnach in der Nacht des 19. Oktober, als sich die ukrainischen Truppen am Nordufer des Dnipros versammelten.
Die Offensive war den Angaben eines Offiziers zufolge von langer Hand geplant und gut vorbereitet - an Bord ihrer gepanzerten Boote hatten die Soldaten demnach ausreichend Maschinengewehre sowie automatische Granatwerfer. Rückendeckung bekamen die ukrainischen Elitekräfte unter anderem durch den Einsatz des Mehrfachraketenwerfers HIMARS, der Teil der westlichen Waffenlieferungen war. "Die Idee war, dass dies ein reines Infanteriegefecht sein würde", erklärte der Offizier der Zeitung. Die Ukrainer gingen davon aus, dass die russischen Truppen keine Artillerie gegen sie einsetzen würde, da dies im Bereich des Kernkraftwerks zu gefährlich wäre.
"Sie haben alles vermint"
Dem Bericht zufolge mussten sich die ukrainischen Truppen jedoch schließlich wegen des heftigen Widerstands der russischen Truppen geschlagen geben. "Die Russen haben eine sehr dichte Verteidigung aufgebaut, sie haben alles vermint", zitiert die "Times" den Offizier. "Als wir uns näherten, zogen sie sogar Panzer und Artillerie auf und begannen, uns direkt auf dem Wasser zu beschießen."
Immer wieder mussten die Boote der Ukrainer abdrehen, sodass es den meisten Soldaten nicht gelang, das Ufer der Besatzer zu erreichen. Jene, die es bei Tagesanbruch an Land schafften, lieferten sich ein rund dreistündiges Feuergefecht mit den russischen Truppen am Rande der Stadt Enerhodar, die an das AKW grenzt. Für die Ukrainer war es sehr schwierig, die Panzer der russischen Streitkräfte vom Boot aus zu beschießen, während sie mit hoher Geschwindigkeit unterwegs waren, berichtete der Offizier der Zeitung weiter. Der Oberbefehlshaber habe schließlich den Rückzug angeordnet. Dem Offizier zufolge die richtige Entscheidung: "Viele Leben wurden dank des Befehlshabers gerettet", wird der Offizier zitiert.
Zum Zeitpunkt der versuchten Rückeroberung hatten die russischen Truppen das Kraftwerk bereits über sechs Monate besetzt. Sie nutzen das Gebiet, um ukrainische Städte auf der anderen Seite des Flusses und ein großes Stahlwerk in der Stadt Nikopol zu bombardieren. Zudem birgt die Besetzung des größten Kernkraftwerks Europas nukleare Gefahren. So ist das AKW zwar seit September vergangenen Jahres abgeschaltet, es braucht jedoch ständige Überwachung sowie Strom, um Kühlmittel um den Kernbrennstoff zu pumpen.
Ukraine schließt direkten Vorstoß auf AKW aus
Ukrainischen Angaben zufolge musste das AKW schon sechsmal mit Dieselgeneratoren arbeiten, um eine Katastrophe zu verhindern. Zudem gibt es Berichte über Folter der ukrainischen Angestellten im Kernkraftwerk. "Wir sehen die fortschreitende Verschlechterung der Anlage in alle Richtungen", sagte der Chef der ukrainischen Atombehörde, Petro Kotin, der "Times". Vor der versuchten Rückeroberung der Ukrainer probierte die internationale Gemeinschaft daher mehrmals, mit Moskau über die Entmilitarisierung des Kernkraftwerks zu verhandeln.
Die ukrainischen Streitkräfte seien sich der Gefahr von Offensiven rund um das AKW Saporischschja bewusst, heißt es in dem Bericht weiter. "Wenn unsere Armee nach Süden in Richtung Krim, in Richtung Melitopol vorrücken kann, ist das die einzige Option - kein direkter Beschuss des Kraftwerks, kein direkter Vorstoß auf das Gebiet des Kraftwerks mit direkten Aktionen gegen die Russen", betonte Kotin.
Die Ukraine und Russland beschuldigen sich seit Monaten gegenseitig, für Angriffe um und auf das Atomkraftwerk verantwortlich zu sein. Im September 2022 war der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, mit einem Expertenteam zu dem AKW Saporischschja gereist. Seitdem ist die IAEA dauerhaft mit Fachleuten vor Ort. "Trotz unserer Präsenz in der Anlage seit nunmehr sieben Monaten ist die Lage im Atomkraftwerk Saporischschja immer noch prekär", mahnte Grossi bei einem erneuten Besuch des AKW vor rund zwei Wochen. Er sprach sich für die Einrichtung einer Sicherheitszone rund um das Kernkraftwerk aus. Dies will Russland eigenen Angaben zufolge unterstützen.
Quelle: ntv.de, spl