Beschuss in Saporischschja Bürgermeister kritisiert "nuklearen Terrorismus" am AKW
14.08.2022, 20:37 Uhr
Ein russischer Soldat bewacht einen Bereich des Kernkraftwerks Saporischschja (Bild vom 1. Mai).
(Foto: dpa)
Seit Tagen werfen sich die Ukraine und Russland gegenseitig den Beschuss des Atomkraftwerks Saporischschja vor. Der Bürgermeister des AKW-Standorts spricht von einem stetig wachsenden Risiko. "Das kann jederzeit unvorhergesehen enden", sagt er.
Die Lage rund um das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja wird nach Angaben des örtlichen Bürgermeisters immer brenzliger. Das Risiko einer atomaren Katastrophe im größten Kernkraftwerk Europas "wächst jeden Tag", sagte der Bürgermeister von Enerhodar, wo sich das AKW befindet. Die russische Armee beschieße "die Infrastruktur, die den sicheren Betrieb des Kraftwerks sicherstellt", fügte Dmytro Orlow hinzu.
Die russische Armee hält das Atomkraftwerk im Südosten der Ukraine seit März besetzt, in den vergangenen Tagen wurde es wiederholt beschossen. Kiew und Moskau machen sich gegenseitig für die Angriffe verantwortlich. Der Raketenbeschuss weckt Befürchtungen einer Katastrophe am größten Atomkraftwerk Europas, der UN-Sicherheitsrat hielt eine Dringlichkeitssitzung dazu ab.
Nach den ersten Angriffen am 5. August musste ein Reaktor des AKW Saporischschja heruntergefahren werden. Bei Angriffen am Donnerstag wurden eine Pumpstation sowie Strahlungssensoren beschädigt. Die ukrainischen Behörden und westliche Verbündete fordern eine entmilitarisierte Zone rund um das Kraftwerk und einen Abzug der russischen Truppen.
Bürgermeister berichtet von Beschuss
"Was da passiert, ist regelrechter nuklearer Terrorismus", kritisierte Enerhodars Bürgermeister Orlow aus der Stadt Saporischschja, die weiterhin unter ukrainischer Kontrolle ist. "Das kann jederzeit unvorhergesehen enden." Die Feuerschutzregeln würden immer wieder verletzt und die Lage "heizt sich weiter auf". Weiter kritisierte der Bürgermeister: "Die Invasoren terrorisieren weiter die Zivilbevölkerung und das Atomkraftwerk." Jeden Tag und jede Nacht werde es aus den besetzten Dörfern mit Mörsergranaten beschossen. "Die Lage ist riskant und was am meisten Sorgen erregt, ist, dass es keinen Deeskalationsprozess gibt", so Orlow.
Der Bürgermeister hatte Enerhodar bereits im April verlassen. Nach seinen Angaben ist die Stadt am Wochenende erstmals beschossen worden. Die Zahl derjenigen, die die Stadt verlassen wollten, sei dramatisch gestiegen. In der "nahen Zukunft" gebe es möglicherweise nicht mehr genügend Personal für einen ordnungsgemäßen Betrieb des AKW.
Dutzende Staaten fordern russischen Abzug
Derweil forderten 42 Staaten und die EU in einer Erklärung in Wien den sofortigen Abzug der russischen Truppen aus dem AKW. "Die Stationierung von russischen Militärs und Waffen in der Atomanlage ist inakzeptabel", hieß es in der Erklärung. Russland verletze die Sicherheitsprinzipien, auf die sich alle Mitgliedsländer der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) verpflichtet hätten. Die Kontrolle über das AKW müsse den befugten ukrainischen Behörden übergeben werden. Dann könnten Experten der IAEA ihre Aufsichtspflicht über die Arbeit der Ukrainer wahrnehmen. Russland müsse vollständig aus der Ukraine abziehen und den "durch nichts provozierten oder gerechtfertigten Angriffskrieg" gegen das Nachbarland beenden.
Die Forderung wurde im Namen der EU und aller ihrer Mitgliedsländer erhoben. Zudem unterzeichneten die USA, Großbritannien, Norwegen, Australien, Japan, Neuseeland und andere Länder. Sie erklärten ihre volle Unterstützung für die IAEA und deren Direktor Rafael Grossi bei dem Bemühen, die Sicherheit der ukrainischen Atomanlagen trotz des russischen Angriffs zu gewährleisten.
Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj hatte am Samstag in seiner täglichen Videoansprache schwere Vorwürfe an Russland gerichtet. Die "Besatzer" nutzten das AKW für eine "Erpressung", indem sie "auf extrem zynische Weise" Angst verbreiteten, sagte der Präsident. Die russischen Truppen "verstecken" sich hinter dem Kraftwerk, um die ukrainisch kontrollierten Städte Nikopol und Marhanez zu beschießen. Jeder Tag, an dem das russische Kontingent auf dem Gelände des AKW verbleibe, erhöhe "die nukleare Bedrohung für Europa", warnte Selenskyj. Er forderte "neue Sanktionen" gegen Russland, mit dem Ziel, die russische Atomindustrie zu "blockieren".
Quelle: ntv.de, mli/AFP/dpa