Reisners Blick auf die Front "Dahinter steckt ein teuflischer Plan der Russen"
26.06.2023, 19:19 Uhr Artikel anhören
Im Süden läuft es für die Ukrainer gut - im Norden für die Russen.
(Foto: REUTERS)
Während es in Russland zu einem Machtkampf zwischen Wagner-Chef Prigoschin und Präsident Putin kommt, gelingt den Ukrainern im Süden fast unbemerkt ein bedeutender Erfolg an der Front. Auch wurden erstmals wieder Bradley-Panzer gesichtet, sagt Oberst Markus Reisner. Doch die Ukraine kämpft mit einem alten Problem: ihre fehlende Luftabwehr und die Jagd der Russen auf ihre Panzer mit Alligator-Helikoptern. Russland verfolge damit einen teuflischen Plan. Wo sich die Wagner-Kämpfer nach ihrem abgebrochenen Marsch nach Moskau befinden, ist nicht sicher. Sicher sei nur, dass sie weder an der Front noch in Belarus sind, so Reisner im wöchentlichen Interview mit ntv.de.
ntv.de: Die ganze Welt hat am Wochenende auf Russland und den Putschversuch von Wagner-Chef Prigoschin geschaut. Dabei ist die Gegenoffensive der Ukrainer in den Hintergrund gerutscht. Haben wir hier etwas Spannendes verpasst?

Jeden Montag beantwortet Oberst Markus Reisner bei ntv.de Fragen zur aktuellen Lage in der Ukraine. Er ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wien sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons. Seit Beginn der russischen Invasion analysiert er den Krieg in der Ukraine.
(Foto: privat)
Markus Reisner: Tatsächlich ist im Süden etwas Interessantes passiert. Die Ukrainer haben es geschafft, südlich der Antoniwka-Brücke einen kleinen Brückenkopf zu bilden. Die Brücke liegt östlich von Cherson am Fluss Dnipro. Sie sind mit Schnellbooten ans andere Ufer gelangt und haben sich dort festgesetzt, wo die Brücke in den Landbereich übergeht. Da gibt es um den Mittelpfeiler der Brücke herum einen kleinen besiedelten Bereich im Überschwemmungsgebiet, Nayry genannt. Die Russen haben es bis jetzt nicht geschafft, sie dort rauszuwerfen. Von dort geht die Brücke weiter über Sumpfgebiet, bis es dann wieder zu bebautem Gebiet kommt. Der Brückenkopf ist also als Zwischenziel sehr günstig gelegen.
Warum?
Weil die russische Seite vom Süden, von Oleschky, Schwierigkeiten hat, durch das ehemalige Überschwemmungsgebiet des Dnipro direkt auf den Brückenkopf zu feuern. Die Ukrainer können so immer mehr Kräfte nachschieben und den Brückenkopf langsam ausweiten.
Konnten die Ukrainer die Überflutung nach dem Dammbruch also zu ihrem Vorteil nutzen?
An der Stelle, wo die Ukrainer übergesetzt haben, ist der Fluss relativ schmal. Ungefähr 800 bis 900 Meter. Die Überschwemmung ist dort vorbei und der Fluss fließt wieder in seinen alten Bahnen. Das Besondere ist, dass sich die Ukrainer im mittleren Brückenpfeiler der Brücke festgesetzt haben, wo nicht nur Wasser, sondern auch bebautes Gebiet und gleichzeitig ehemaliges Überschwemmungsgebiet ist. Das macht es ihnen leicht, diesen Raum zu halten, weil von dem mittleren Brückenpfeiler bis zum südlichen sich wieder altes Überschwemmungsgebiet befindet, das jetzt wieder überschwemmt worden ist. Das heißt, es ist sehr schwierig zu begehen und zu befahren. Die Russen können deshalb nur über die Brückenstraße bis zu diesem Zwischenpfeiler fahren.
Versucht Russland jetzt nicht, die Stellung vom Süden aus mit Artillerie zu beschießen?
Ja, das haben sie auch gemacht. Das Problem ist nur, dass sie dann auch die eigenen Soldaten beschossen hätten. Sie versuchen stattdessen, die Ukrainer gezielt mit Gleitbomben anzugreifen.
So präzise können Gleitbomben aber nicht ein Ziel ansteuern, oder?
Nicht so genau, wie wir das von anderen, vor allem westlichen Systemen kennen. Die Russen haben versucht, mit sogenannten First-Person-Drohnen anzugreifen. Das sind Drohnen, die mittels eines Head-up-Displays und Kameratechnik aus der Sicht eines Piloten ferngesteuert werden. Die Ukrainer haben es aber offenbar geschafft, Störer auf das Südufer zu bringen und das elektromagnetische Spektrum und damit die Funkkommunikation stören. Dadurch können die Russen die Drohnen dort nicht gezielt einsetzen.
Ist das nicht die gleiche Taktik, die die Russen gegen die Ukrainer eingesetzt haben?
Genau, die Russen haben bei der Offensive im Zentralraum immer wieder das elektromagnetische Feld der Ukrainer und damit die Kommunikation untereinander gestört.
Wie sieht es am Rest der Front aus?
Im Zentralraum bei Saporischschja hat es einen neuerlichen Vorstoß von Stepowe in Richtung Pjatychatky gegeben. Da haben die Ukrainer es geschafft, etwa drei Kilometer von der alten Front in Richtung Süden vorzustoßen, stecken dort aber jetzt fest. Weiter östlich davon, bei Orichiw, wurden mechanisierte Verbände eingesetzt. Hier gibt es neue Bilder von versuchten Angriffen der Ukrainer Richtung Süden. Auf neuen Videos ist zu sehen, dass die Ukrainer versucht haben, mit Bradley vorzustoßen. Allerdings wenig erfolgreich, die Front steckt hier ziemlich fest.
Stichwort Leopard und Bradley: Wir haben zu Beginn der Offensive ein paar von ihnen gesehen, doch seit den Bildern der zerstörten westlichen Panzer scheinen sie nirgends mehr an der Front aufgetaucht zu sein. Werden die Brigaden mit westlichen Panzern derzeit zurückgehalten?
Die Bilder der zwei Bradleys vom Wochenende sind die ersten seit dem Vorstoß am 10. beziehungsweise 11. Juni bei Orichiw. Von insgesamt zwölf Brigaden kennen wir den Raum von acht. Vier von ihnen werden noch in der Hinterhand gehalten. Das ist die 116., 117, 118. mechanisierte und die 82. Luftsturmbrigade. Die 82. Luftsturmbrigade ist die stärkste. Sie hat 40 deutsche Schützenpanzer vom Typ Marder, 90 US-Radschützenpanzer vom Typ Stryker und 14 britische Challenger-Kampfpanzer. Die sind bis jetzt noch nicht in Erscheinung getreten.
Werden diese Brigaden von der Ukraine erst eingesetzt, wenn sie bei den Vorposten durchgestoßen sind?
Das ist die Vermutung. Die Ukrainer hoffen wahrscheinlich, mit den bereits jetzt eingesetzten Brigaden irgendwo eine Durchbruchstelle zu finden, um dann das Schwergewicht dieser vier noch vorhandenen Brigaden einzusetzen.
Wo befinden sich diese Brigaden derzeit?
Sie sind wahrscheinlich in dem Bereich östlich von Saporischschja und nördlich des Zentralraumes in Bereitstellungsräumen.
Zurück zur Frontlinie. Wo lassen sich noch Bewegung erkennen?
Nochmals weiter östlich gibt es in der Region Donezk neue Bilder von heftigen Kämpfen in Makarivka. An diesem Frontbogen hat es die Ukraine geschafft, am weitesten vorzustoßen, etwa sechs Kilometer. Da haben sie sich von Welyka Nowosilka aus entlang des Flusses von einer Ortschaft zur nächsten vorgekämpft und auch die Ortschaft Riwnopil befreit.
Haben die Ukrainer einen Vorteil bei Ortschaften?
Ja, sie eignen sich für einen Vorstoß besser, weil das bebaute Gebiet bei einem infanteristischen Vorstoß viel mehr Schutz bietet als flaches, offenes Gelände, wo nur Windschutzgürtel Schutz bieten.
In solchen Gebieten machen die Russen mit Alligator-Helikoptern regelrecht Jagd auf ukrainische Panzer. Letzte Woche haben Sie in unserem Interview gesagt, dass die Luftverteidigung ein großes Manko der Ukrainer ist. Was können sie den Helikopter-Angriffen der Russen also entgegensetzen?
Dahinter steckt ein teuflischer Plan der Russen. Sie greifen mit Drohnen und Marschflugkörpern gezielt kritische Infrastruktur in den Städten an, damit die Ukrainer gezwungen sind, die verfügbare Flugabwehr vor allem zum Schutz der Städte einzusetzen. Wenn sie die Flugabwehr an der Front einsetzen wollen, müssen die Ukrainer die Städte entblößen und können dort den Schutz nicht mehr gewährleisten. Das haben sie in den letzten Monaten auch gemacht, das war Teil der Vorbereitungsphase auf die entscheidende Phase der Offensive. Sie haben also teilweise die Flugabwehr in den Bereich der Front verlegt, als sie ihre Kräfte in den Bereitstellungsräumen zusammengezogen haben und Panzer neben Panzer stand, damit die Russen nicht angreifen konnten. Das hat mehr oder weniger funktioniert, aber als sie dann aus den Bereitstellungsräumen in die Angriffsrichtungen losgefahren sind, haben die Russen die Kolonnen mit den Kampfhubschraubern angegriffen, bevor der eigentliche Angriff der Ukrainer überhaupt begonnen hat. Das Dilemma der Ukrainer ist also, dass sie zu wenig Luftabwehr haben, um sich an der Front und in den Städten gegen Luftangriffe zu verteidigen. Sie brauchen mehr internationale Unterstützung. Die Frage ist, wie lange dauert das? Und was bedeutet das dann für die Offensive?
Besteht das gleiche Problem im Norden der Front?
Im Nordost-Raum, wo sich Bachmut befindet, ist der Vorstoß der Ukraine zum Erliegen gekommen und es gibt weiter nördlich sehr heftige Kämpfe im sogenannten Kreminna-Waldgebiet. Vermutlich versuchen die Russen ihrerseits, dort eine kleine Offensive voranzutreiben, damit die Ukrainer gezwungen sind, dort mehr Reserven einzusetzen. Ähnlich wie die Ukrainer im Süden haben die Russen auch tatsächlich kleinere Erfolge im Norden bei Kupjansk. Da gibt es auch ein Waldgebiet und da haben die Russen es geschafft, vorzumarschieren und einige Quadratkilometer in Besitz zu nehmen.
Haben sich die Wagner-Kämpfer komplett von der Front zurückgezogen?
Wie es aussieht, hat sich Wagner tatsächlich in den letzten drei Wochen komplett von der Front verabschiedet. Sie haben östlich von Bachmut Ausbildungs- und Trainingslager bezogen. Von dort sind einige diese Kräfte dann auch in Richtung Rostow gefahren, wo dann das Drama vom Wochenende seinen Lauf nahm.
Und das haben sie völlig unbemerkt von den Russen machen können?
Die Russen haben es schon gemerkt, aber niemand hat vermutet, dass es zu dieser Eskalation kommt. Wagner hat sich die ganze Zeit bewegt, weil man ja Schulter an Schulter gekämpft hat. Mit dieser Aktion hat aber offenbar niemand gerechnet.
Wo befinden sich die Wagner-Söldner jetzt?
Grob zwischen Bachmut und Rostow. Genauer kann man das noch nicht sagen. Zum Teil auch in der Oblast Luhansk und Donezk.
Was machen sie jetzt dort? Sich ruhig verhalten und auf den nächsten Befehl warten?
Sie warten jetzt ab, wie es weitergeht. Noch ist es nicht zu einem großen Zug in Richtung Belarus gekommen. Es gibt noch keine Videos von Eisenbahntransporten, wo man sieht, dass große Mengen an Soldaten dort hinüberverlegt werden. Sie sind alle in diesen temporären Camps, wo sie sich nach den Kämpfen zurückgezogen haben und sich auffrischen und ausbilden. Es gab einige Videos von diesen Ausbildungen, weil damals angekündigt wurde, am 5. August gehen wir wieder zurück an die Front. Die Frage ist, ob das noch immer der Plan ist oder ob sie aufgrund der Ereignisse in den letzten zwei Tagen nach Belarus ins Exil gehen werden. Das lässt sich aber noch nicht abschätzen.
Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de