Politik

Tag des Wagner-Aufstands Erst Popcorn in Kiew, dann große Enttäuschung

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Ein Buch liegt nach einem russischen Luftangriff inmitten von Schutt in einer Wohngegend in Kiew.

Ein Buch liegt nach einem russischen Luftangriff inmitten von Schutt in einer Wohngegend in Kiew.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

In der Ukraine hat der Wagner-Aufstand kurzzeitig für gute Laune gesorgt. Größere Auswirkungen auf die Kämpfe sind allerdings nicht zu erwarten - es sei denn, die ukrainische Armee zieht eine Lehre aus Prigoschins Zug Richtung Moskau.

Es war ein Tag der gemischten Gefühle in Kiew. Erst in der Nacht auf den Samstag war die Ukraine mit insgesamt 50 Marschflugkörpern und Raketen beschossen worden, der Großteil griff wie gewohnt die Hauptstadt an. Und obwohl die Kiewer Flugabwehr unverändert eine gute Arbeit geleistet hat, kam es zu einer weiteren Tragödie dieses Krieges: Die Trümmer einer abgefangenen Rakete trafen wieder auf ein Wohnhaus. Bisher ist bekannt, dass fünf Menschen dabei starben.

Und trotzdem veränderte sich die Stimmung in Kiew im Laufe des gestrigen Tages ausnahmsweise zum Positiven, während die von Jewgenij Prigoschin angeführte Söldnergruppe Wagner im Rahmen ihres Aufstandsversuchs Richtung Moskau zog. In Kiewer Bars und Restaurants wurde auf den russischen Staatsstreich angestoßen. Das ukrainische Internet war voll mit Scherzen über stark gestiegene Verkaufszahlen von Popcorn und mit ironischen Ratschlägen an die Moskauer Bevölkerung, wie man sich unter Kriegsumständen am sichersten verhält.

"Das imperialistische Monster demonstriert seine innere Schwäche"

Der grundsätzliche Tenor war aber: Egal, ob Prigoschin oder das russische Verteidigungsministerium am Ende die Nase vorn haben sollte - je länger der innerrussische Konflikt eskaliert, desto besser für die Ukraine. Am Abend war Prigoschins Aufstand aber bereits vorbei - und in der Luft bleibt die Frage hängen, ob die Ukraine dessen Folgen wird ausnutzen können oder vielleicht sogar bereits nutzt. "Ich spüre den Seufzer der Enttäuschung in ukrainischen sozialen Netzwerken körperlich", schrieb der bekannte ukrainische Politologe Wolodymyr Fessenko auf Facebook zu den Reaktionen in der Ukraine, als bekannt wurde, dass Prigoschin seinen "Marsch auf Moskau" abgeblasen hat.

Fessenko, der das Zentrum für angewandte politische Forschung "Penta" in Kiew leitet und dem Umfeld von Präsident Wolodymyr Selenskyj nahesteht, sieht es selbst als positives Zeichen, dass das System des russischen Präsidenten immer stärker öffentlich wackelt. Er warnt aber vor zu großem Optimismus. "Sowohl Putin als auch Prigoschin haben das Schlimmste verhindert, doch sie haben die eigene Schwäche sowie die Schwäche des modernen Russlands gezeigt", meint er. "Eine automatische Niederlage Russlands wird es nicht geben. Wir haben einen langen und harten Kampf vor uns. Dieses imperialistische Monster demonstriert aber wieder innere Schwäche. Wir müssen sie ausnutzen, Schritt für Schritt."

Größere Auswirkungen auf die Kämpfe sind unwahrscheinlich

Doch was ist mit den konkreten Folgen für die Lage an der Front? Zunächst einmal ist der Wagner-Aufstand, unabhängig davon, welches Ergebnis am Ende dabei herauskommen wird, ein Schlag für die Kampfmoral der russischen Soldaten. Er könnte durchaus auch zusätzliches Chaos in den russischen Befehlsketten auslösen. Und natürlich waren die Ereignisse ein moralischer Boost für die ukrainischen Soldaten. Denn deren Sommeroffensive hat zwar seit ihrem Beginn am 4. Juni zur Befreiung von bisher acht Orten geführt, läuft aber - wie erwartet - etwas zäh. Soldaten an der Front tendieren naturgemäß dazu, sich vor allem auf ihre konkreten Aufgaben zu konzentrieren, statt zu sehr nach Russland zu schauen. Ein paar zusätzliche Lacher über den Aufstandsversuch dürfte es in den ukrainischen Stellungen aber sicher gegeben haben.

Fakt ist jedoch auch, dass der Aufstand keinen direkten Einfluss auf die Kämpfe hatte. Nach einer Pause haben die sich zuletzt zwar wieder intensiviert, aber das ist eher auf die Entwicklung der Gegenoffensive zurückzuführen. Ukrainische Fortschritte gab es dabei sowohl auf den Flanken von Bachmut als auch an einigen Orten im Süden. Die Russen haben ihre Stellungen aber nicht aufgegeben und haben auch selbst weiter angegriffen, etwa im Bezirk Luhansk. "Der Feind verfügt weiterhin über Kräfte, um an mehreren Frontabschnitten offensive Aktionen durchzuführen. Die Verteidigungskräfte der Ukraine setzen dagegen begrenzte Offensivaktionen fort und haben Erfolg", schreibt der gut informierte Telegram-Kanal DeepState, der dem ukrainischen Militär nahesteht. Auch andere ukrainische Analytiker sprechen davon, dass die Kämpfe an der Front mehr oder weniger genauso weitergehen wie auch vor dem Wagner-Aufstand.

Was, wenn die Ukraine Belgorod einnimmt?

Daher beruhen die ukrainischen Hoffnungen weniger auf den Folgen des Aufstands, sondern auf der Tatsache, dass der Großteil der für die Gegenoffensive vorbereiteten Brigaden noch nicht in der Nähe der Front gesichtet wurde. Einen eher unwahrscheinlichen, aber doch möglichen und spannenden Aspekt offenbart die Aktion von Prigoschin dann doch: Während fast alle schlagkräftigen russischen Truppen in der Ukraine kämpfen, kann sich Russland kaum auf dem eigenen Staatsgebiet verteidigen. Es ist zwar davon auszugehen, dass das russische Verteidigungsministerium direkte Kampfhandlungen mit den Söldnern vermeiden wollte. Dass die Wagner-Kämpfer es aber ohne besonderen Widerstand bis 200 Kilometer vor Moskau schafften und die russische Luftwaffe dabei ein Flugzeug und sieben Hubschrauber verlor, zeigt eindrücklich, dass Russland auf seinem international anerkannten Staatsgebiet ziemlich blank dasteht.

Im Klartext bedeutet dies: Sollte die Ukraine nicht mehr mit kleineren Gruppen von Saboteuren agieren, sondern einige größere Militärkolonnen zum Beispiel nach Belgorod schicken, wäre nicht auszuschließen, dass die ukrainische Armee die Stadt schnell unter ihre Kontrolle bringt. Dann müsste Russland machen, was es in Reaktion auf frühere Aktionen der Kiew nahestehenden Milizen "Russisches Freiwilligencorps" und "Legion Freiheit Russlands" explizit nicht gemacht hat: einen bedeutenden Teil der Truppen zur Verteidigung des eigenen Territoriums entsenden. Dieses Szenario bleibt unwahrscheinlich, weil die westlichen Partner der Ukraine solche Aktionen sehr kritisch sehen würden. Militärisch gesehen würde das aber einerseits für einen Überraschungsschock sorgen - und wohl wichtige Lücken an der eigentlichen Front eröffnen.

Quelle: ntv.de

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