Interview mit Heiner Bremer "Das schreit geradezu nach Debatte"
10.07.2021, 13:17 Uhr
(Foto: picture alliance/dpa)
An diesem Sonntag wird der Journalist Heiner Bremer 80 Jahre alt - Anlass für ein Interview: über Angela Merkel, Schnee von gestern und die anstehende Bundestagswahl. Seine Prognose: Laschet wird Kanzler, die Frage ist nur, in welcher Koalition. "Aus der Umgebung des Kanzlerkandidaten höre ich, dass er einer 'Deutschland-Koalition' nicht abgeneigt wäre, also einem Bündnis von Union, SPD und FDP", sagt Bremer.
ntv.de: Bundespräsident Steinmeier hat die Sorge geäußert, dass der aktuelle Wahlkampf zur Schlammschlacht werden könnte. Ist diese Furcht aus Ihrer Sicht berechtigt?
Heiner Bremer: Zu einer Schlammschlacht gehört mehr als eine Spitzenkandidatin, die von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen tritt und offenbar unklug beraten wird. Dass und wie Annalena Baerbock attackiert wird, ist noch keine Schlammschlacht. Ich habe Wahlkämpfe miterlebt in früheren Jahren, etwa 1980, als CSU-Chef Franz Josef Strauß Kanzlerkandidat der Union war und gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt antrat. In diesen Kontroversen wurde viel härter ausgeteilt. Wir sollten da nicht so empfindlich sein. Sie hat halt Nachlässigkeiten begangen, sie hat ihren Lebenslauf ein bisschen geschönt und wollte offenbar ein bisschen mehr scheinen, als sie wirklich ist. Das darf man doch kritisieren. Von einer Schlammschlacht ist das weit entfernt.
Für mich ist der wesentliche Punkt dabei: Wer so nachlässig arbeitet, von dem weiß ich nicht, ob er dann, wenn er regiert, genauso mit den Problemen umgeht. Ich habe also Zweifel, kein Vertrauen mehr. Allerdings würde ich mir wünschen, dass die Parteien sich im Wahlkampf langsam mal darüber streiten, wie Deutschland in die Zukunft geführt werden soll.
In Ihrem Podcast, den Sie zusammen mit Franca Lehfeldt machen, haben Sie letzte Woche gesagt, unter Merkel habe es im Bundestag kaum echte Debatten gegeben. Lag das nur an Merkel?
Nein, dazu gehören immer zwei Seiten. Auch den Abgeordneten muss man vorwerfen, dass sie der kontroversen, inhaltlich starken Debatte, in der die Politik der Bundesregierung auch mal in Frage gestellt wird, ausgewichen sind. Am Ende einer solchen Debatte kann durchaus der Schluss stehen, dass eine Politik richtig ist. Aber das Hinterfragen muss von den Abgeordneten ausgehen, die haben es sich zu häufig zu bequem gemacht.
Allerdings ist genau dies der Regierungsstil von Angela Merkel: möglichst wenig anecken, möglichst wenig provozieren, sehr vom Ende her denken, auf Stimmungen achten - und die Reden im Bundestag eher unambitioniert abspulen. Aber trotzdem ist es ein Versagen des Parlaments, sich auf diese Art und Weise einlullen zu lassen, statt die Kanzlerin zu grillen. Das war in früheren Jahren ganz anders. Da mussten Regierungen im Bundestag Rede und Antwort stehen. Und wenn schon im Bundestag im Kuschelstil debattiert wird, dann färbt das auch auf die Gesellschaft ab. So entsteht das Gefühl: Eine wirklich kontroverse Debatte ist nicht mehr zeitgemäß. Und so glaubt eine Mehrheit der Bürger, sie könne ihre Meinung nicht mehr offen sagen.
Ist das denn so?
Nein, das halte ich für Unsinn, man kann seine Meinung durchaus offen sagen. Man darf sich nur nicht einschüchtern lassen.
Aber?
Aber mein Eindruck ist, dass wir zu häufig Debatten führen, in denen einige wenige meinen, sie alleine hätten die Deutungshoheit, in denen jeder Widerspruch niedergeschrieben, niederdiskutiert wird. Wenn die Mehrheiten den Mut verlieren, dagegenzuhalten, führt das zu einer Meinungsherrschaft von Minderheiten. Das ist keine gute Diskussionskultur und färbt ab auf die Medien, bei denen ich zunehmend den Eindruck habe, dass sie das kritische Hinterfragen von Ereignissen oder politischen Entscheidungen nicht mehr wirklich pflegen. Sie freuen sich, wenn sie einen wichtigen Politiker im Interview haben, arbeiten dann aber nur ihre Stichwortzettel ab. Dass kritisch hinterfragt wird, dass ein Politiker auch mal in die Enge getrieben wird, das ist immer seltener zu beobachten - insbesondere bei den öffentlich rechtlichen Sendern von ARD und ZDF. Das finde ich eine schlechte Entwicklung, denn das führt dazu, dass die Streitkultur in der Gesellschaft verkümmert.
Wurde in der Corona-Zeit nicht viel gestritten?
Corona hat aus meiner Sicht gezeigt, dass unsere Debatten zu bequem geworden sind. Meist gab es eigentlich nur zwei Seiten: Die eine war der Meinung, dass die Maßnahmen der Bundesregierung im Großen und Ganzen richtig und alternativlos waren. Die andere Seite hatte eine kritische Haltung - nicht zum Kernproblem, dass der Staat eine Schutzfunktion hat und deshalb natürlich auch Maßnahmen verordnen darf. Aber nicht jedes Verbot und jede Vorschrift war überzeugend. Wer das kritisierte, wurde schnell in die Ecke der Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker gestellt. Für mich ist das Ausdruck einer krassen Fehlentwicklung. Es ist ja nicht so, dass jegliche Kritik an der Bundesregierung völliger Blödsinn war: Es gab einige Gerichtsurteile, mit denen Maßnahmen aufgehoben wurden.
Wird sich der Debattenstil im Parlament ändern, wenn Angela Merkel nicht mehr Bundeskanzlerin ist?
Geboren am 11. Juli 1941 in Pinneberg, 1970 zweites juristisches Staatsexamen. Seit 1970 beim "Stern", zuletzt als Chefredakteur. Ab 1993 bei RTL, wo er das "Nachtjournal" entwickelte, leitete und moderierte. Von 2004 bis 2016 Moderator von "Das Duell bei ntv", seither Kommentator und Analyst des Senders. Seit Juni 2021 macht er den Podcast "Redezeit" zusammen mit der RTL-Journalistin Franca Lehfeldt.
Ich gehe davon aus. Denn wer auch immer die nächste Regierung führt, wird mit Sicherheit einen anderen Regierungsstil haben - nicht diesen Merkelismus des Abwartens, wie die Stimmung sich entwickelt. Allein schon wegen der Herausforderungen, vor denen wir stehen, wird es kontroverse Debatten geben müssen. Zum Beispiel beim Klimaschutz. Der ist ja notwendig und auch richtig. Aber mit welchen Maßnahmen, in welchem Tempo? Wie gelingt es, die Bürger mitzunehmen und sie nicht zu überfordern? Das schreit ja geradezu nach offener Debatte.
Laschet gilt vielen als Kandidat des "Weiter so".
Das bezieht sich nicht auf den Stil, sondern auf Inhalte. Am grundsätzlichen Kurs wird er nichts ändern. Wir dürfen ja auch nicht vergessen, dass Merkel in der Bevölkerung hoch populär ist. Laschets Ansatz wird sein, die Menschen nicht zu überfordern, aber dennoch in vielen Bereichen sehr wohl Veränderungen vorzunehmen - behutsam, denn Veränderungen sind nicht die Lieblingsbeschäftigung der Deutschen. Es sind nun mal keine Revolutionäre.
Mit Bahnsteigticket vielleicht schon.
Aber es gibt keine Revolution, weil man dafür den Rasen betreten müsste. Diese alten Sprüche stimmen immer noch. Für die Politik heißt das: Sie muss den Bürger mitnehmen. So erkläre ich mir auch die aktuellen Umfragen. Die Leute wählen nicht Herrn Laschet, Frau Baerbock oder Herrn Scholz, sondern sie fragen sich: Welcher Partei traue ich zu, dieses Land in die Zukunft zu bringen und mich dabei nicht zu vergessen? Bei dieser Frage genießt die Union einfach ein hohes Vertrauen.
Wikipedia weiß, dass Sie mal als "Adept sozialistischer Ideen" bezeichnet wurden…
Das muss aber lange her sein.
1970, von Landwirtschaftsminister Josef Ertl, FDP.
Ach ja (lacht). Das war meine Zeit als Vorsitzender der Jungdemokraten…
… damals der Jugendverband der FDP.
Wir haben die FDP seinerzeit ein bisschen von der nationalliberalen Ecke ins Sozialliberale geschoben. Sonst wäre auch die Koalition der FDP mit der SPD von Willy Brandt nicht zustande gekommen. Jemand wie Josef Ertl - ein hochsympathischer, aber eben erzkonservativer Mann - fand das nicht so lustig. Ich glaube, er hat auch mal gefordert, dass ich aus der Partei geworfen werde (lacht). Aber das ehrt einen in solchen Konflikten ja nur. Am Ende haben nicht die Konservativen gewonnen, sondern die Reformer. Der FDP wäre es auch in späteren Jahren besser gegangen, wenn sie diesem Kurs treu geblieben wäre, statt nur wirtschaftsliberal zu sein wie unter Otto Graf Lambsdorff und später unter Guido Westerwelle. Aber das ist Schnee von gestern.
Ist der ehemalige "Adept sozialistischer Ideen" im Laufe der Zeit konservativer geworden?
Man wird nachdenklicher, man überprüft eigene Meinungen, je älter man wird, noch gründlicher und auch ehrlicher mit sich selbst. Sozialist war ich nie. Ich war immer ein Gesinnungsliberaler und bin es bis heute. Ich war immer der Meinung, dass wir den Markt brauchen, aber eben auch die soziale Abfederung - und im Übrigen möglichst wenig Staat. Diesen Gesinnungsliberalismus teilen viele, und das war nicht immer die FDP. Es gab Jahre, da war ich von der FDP wahnsinnig weit entfernt.
Haben Sie eine Prognose für die Bundestagswahl?
Ich bin da eher vorsichtig. Im Gegensatz zu manchen Kollegen war ich nie davon überzeugt, dass es einen grünen Zeitgeist gibt, der die Wahl entscheiden wird. Ich denke, es gibt viele Leute, die es richtig fänden, wenn die Grünen mitregieren. Aber es gibt nicht so viele, die sich eine grüne Kanzlerin wünschen. Ich gehe also davon aus, dass die Union den Kanzler stellen wird. Die Frage ist nur: In welcher Koalition?
Und?
Aus der Umgebung des Kanzlerkandidaten höre ich, dass er einer "Deutschland-Koalition" nicht abgeneigt wäre, also einem Bündnis von Union, SPD und FDP. Denn für Schwarz-Gelb, Laschets Lieblingskoalition, wird es ja wohl nicht reichen. Und Schwarz-Grün ist für ihn nicht so erstrebenswert, wie viele denken.
Was sollte die SPD bewegen, wieder mit der Union zu regieren?
Zum einen könnte die Union die Bewerbung von Frank-Walter Steinmeier für eine zweite Amtszeit als Bundespräsident unterstützen. Und dann könnte ich mir vorstellen, dass es aus Sicht von Olaf Scholz durchaus interessant wäre, weiter in der Regierung mitzuarbeiten. Auch Saskia Esken will vermutlich nicht für immer Parteivorsitzende bleiben, sondern würde lieber Ministerin werden. Das wollte sie wohl schon, als Franziska Giffey das Familienministerium verließ.
Nach der Bundestagswahl geht Angela Merkel in den Ruhestand. Was bleibt von ihr?
Darüber sprechen Franca Lehfeldt und ich auch im aktuellen Podcast, gewissermaßen als Vorgriff auf die RTL-Dokureihe über Angela Merkel.
Außen- und sicherheitspolitisch hat Angela Merkel das Land schon ganz gut gemanagt und durch die Krisen geführt. Innenpolitisch hat sie zwei Dinge gemacht: Sie hat dafür gesorgt, dass die CDU 16 Jahre an der Macht bleiben konnte, unter anderem, indem sie sich Wählererwartungen, die eher auf sozialdemokratischem Feld zu Hause waren, zu eigen gemacht hat, sich also gewissermaßen sozialdemokratisiert hat und dadurch diese Wähler gewonnen hat. Die Kehrseite ist allerdings, dass sie die CDU inhaltlich entkernt hat - wobei ich sehr wohl weiß, dass die CDU noch nie eine echte Programmpartei war. Sie war immer eine Partei, deren Perspektive hieß: Macht gewinnen, Macht ausüben, Macht erhalten. Große inhaltliche Redeschlachten wie bei der SPD gab es bei der CDU nie. Aber sie hatte wenigstens ein Grundgerüst. Das ist unter Merkel völlig verloren gegangen. In den vergangenen Jahren galt: Merkel ist die CDU, und die CDU ist Merkel. Jetzt, wo Merkel bald nicht mehr da ist, hat die Partei natürlich ein Problem. Jetzt müssen wieder Inhalte aus der Schublade gekramt werden. Das ist, wie wir sehen, nicht ganz leicht.
Ich glaube dennoch, dass das historische Urteil positiv sein wird. Ob man sie mit irgendetwas verbinden wird? Das weiß ich nicht. Bei Adenauer ist es die Westbindung, bei Erhard die Marktwirtschaft, bei Brandt die Ostpolitik, bei Schmidt der NATO-Doppelbeschluss, bei Kohl die Deutsche Einheit. Vielleicht wird es bei Merkel die Flüchtlingskrise sein. Aber das ist ein Ereignis, bei dem sie eigentlich aus dem Rahmen gefallen ist - bei dem sie einmal menschlich und nicht von der Stimmungslage der Bevölkerung her agiert hat. Hinterher hat sie versucht, das zu kaschieren und zu korrigieren. Aber unterm Strich: Merkel hat eine Menge für Deutschland geleistet. Wir hätten schlechter regiert werden können.
Mit Heiner Bremer sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de