Politik

Gefahr durch "einsame Wölfe" Der Täter von Hanau war mitten unter uns

Der Anschlag in Hanau zeigt: Die Behörden sind auf die neue Art des rechten Terrors nicht vorbereitet. Tatsächlich sind die "einsamen Wölfe" die größte Gefahr für die Sicherheit.

Bekommen wir nach Hanau eine Debatte, die wir seit dem Auffliegen der NSU-Terrorzelle 2011 eigentlich längst haben sollten? Sind wir auf dem rechten Auge blind, da wir hinter jedem Terroranschlag islamistische Brandstifter vermuten? Eine unliebsame politische Debatte droht uns, wie die ersten politischen Reaktionen bereits zeigen. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und SPD-Chefin Saskia Esken sprechen nun von "Brandmauern" gegen die AfD - was immer diese bringen sollen. Die unglückliche Wortwahl wird der Sache nicht gerecht und treibt die Spaltung des Landes weiter voran.

Bereits 2019 wurde die Gefährlichkeit des rechten Terrors deutlich. Im März ermordete ein Australier nach jahrelanger Planung im neuseeländischen Christchurch in zwei Moscheen 51 Gläubige und übertrug die Tat live bei Facebook. Im Juni sorgte der erste vollendete Mord von rechts an einem Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik für Entsetzen. Der hessische Rechtsextremist Stephan E., der nicht mehr auf dem Radar der Sicherheitsbehörden war, ermordete den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Und am 9. Oktober versuchte der 27-jährige Stephan B., am helllichten Tag in Halle in eine Synagoge einzudringen und ermordete nach dem Scheitern willkürlich zwei Menschen. Er nahm sich ein Vorbild an dem Täter von Christchurch und streamte die Tat ebenfalls live. Schülerinnen und Schüler aus Halle bekamen das Video per Whatsapp und anderen Messenger-Diensten zugeschickt.

Und nun das Fanal von Hanau. Auch hier gibt es ein auf Deutsch verfasstes 24-seitiges Manifest, gelayoutet und mit Grafiken versehen. Dazu ein Youtube-Video, das sich in sehr gutem Englisch an amerikanische Bürger richtet. Der Täter war mitten unter uns, Mitglied in einem Schützenverein. Er ging akribisch und erschreckend rational vor. Das zeigt sich auch in der Opferauswahl, einem typischen Merkmal von Rechtsterrorismus. Auch diese ist gezielt, sie richtet sich gegen Menschen mit Migrationshintergrund, was den Terrorismus von einem Amoklauf unterscheidet, der spontan und willkürlich erfolgt. Rechtsterroristen sind PR-Strategen in eigener Sache, sie denken schon vor den Anschlägen an die Verbreitung ihrer Taten.

Seit dem 22. Juli 2011 ist dieser Tätertypus des rechtsextremistischen sogenannten einsamen Wolfs der Weltöffentlichkeit bekannt. Nach jahrelanger Planung ermordete der norwegische Rechtsextremist Anders Behring Breivik nach einer diabolischen Choreographie 77 Menschen, darunter viele Jugendliche. Der Täter von Hanau, Tobias R., ein Mann mittleren Alters, sieht sich von einem Geheimdienst überwacht. Wie die österreichische "Presse" berichtet, hatte er zuvor bereits sein Manifest den Behörden geschickt. Man kann leicht zu dem Schluss kommen, dass bei ihm eine psychische Störung, etwa Schizophrenie vorlag. Wie der Täter von Halle litt auch er unter persönlichen Frustrationen. Auffällig ist in beiden Fällen ein offenbar gestörtes Verhältnis zu Frauen. Auch Breivik hasste Frauen, lebte aber wie Stephan B. und Tobias R. bei seiner Mutter.

Manifest ist durchtränkt von Verschwörungstheorien

Doch eine Entpolitisierung der Taten greift zu kurz. Tobias R. zählt eine Reihe von Staaten auf, die zu eliminieren wären - von Marokko über die Türkei bis hin zu den Philippinnen. Und im nächsten Schritt solle dann noch eine "Feinsäuberung" kommen, die dann auch das "eigene Volk" betreffe. Auch das Video ist durchtränkt von Verschwörungstheorien, die aus dem Rechtsextremismus kommen. Danach besteht eine Geheimregierung, die alles steuert.

Lange gingen selbst Experten davon aus, dass Terrorismus ein Gruppenphänomen sei. Sicherheitsbehörden haben mindestens 50 Jahre damit verbracht, neue Rechtsdurchsetzungsinstrumente zu schaffen - in der Annahme, dass es sich bei Terrorismus um ein zellenbasiertes System mit einer Befehlskette handelt. Auch der Verfassungsschutz lehnte den Begriff des "einsamen Wolfs" lange ab. Aber Fakt ist: Das Zerstören von Gruppendynamik, das Infiltrieren von Organisationen und das Aufbrechen von schwachen Verbindungen in einer Befehlskette erscheint plötzlich überflüssig im Kampf gegen isolierte Individuen. Nun leben wir aber im Zeitalter des Individualterrorismus. Bereits 2011 sagte der damalige US-Präsident Barack Obama nach dem Fall "Breivik", die "einsamen Wölfe" seien die größte Gefahr für die Sicherheit der Vereinigten Staaten. Das gilt auch hierzulande, auch wenn das nicht so offen eingeräumt wird.

Florian Hartleb lehrt an der Fachhochschule der Polizei Sachsen-Anhalt. Er ist Autor des Buches "Einsame Wölfe. Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter" und war Gutachter der Stadt München nach dem Attentat vom 22. Juli 2016.

Florian Hartleb lehrt an der Fachhochschule der Polizei Sachsen-Anhalt. Er ist Autor des Buches "Einsame Wölfe. Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter" und war Gutachter der Stadt München nach dem Attentat vom 22. Juli 2016.

Die Behörden sind auf die neue Art des rechten Terrors nicht vorbereitet, wie bereits die Tat von München zeigt. Der Deutsch-Iraner David Sonboly ermordete am 22. Juli 2016, genau fünf Jahre nach Breivik, neun Menschen mit Migrationshintergrund. Dann richtete er sich, wie nun der Täter von Hanau, selbst. Erst nach mehr als drei Jahren erkennen Bayerns Behörden den politischen Hintergrund dieser Taten an und ordnen sie als politisch motivierte Kriminalität ein - ein krasses Beispiel, wie rechtsterroristische Taten "entpolitisiert" werden.

Die Weiterbildung der Polizei- und Justizbehörden sollte aber berücksichtigen, dass jemand ein Rechtsextremist sein kann, der keiner Partei oder Organisation angehört. Nach dem Fall Sonboly hatte das der bayerische Innenminister Joachim Herrmann noch bestritten. Und es ist auch die Gesellschaft an sich angesprochen. Verschwörungstheorien grassieren, eine Bewegung wie die Reichsbürger, die ähnlich wie der Täter an dunkle Mächte und die Überwachung durch einen von den USA gesteuerten Geheimdienst glauben, erfährt massiven Zulauf. Spätestens hier stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis moderner Gesellschaften. Sie sollten, um Anschläge wie die von Hanau zu verhindern, feinere Sensoren für narzisstische Muster und rechtsextremistisch motivierte Botschaften  entwickeln. Schon Schulen sollten sich mit dem Umgang mit Verschwörungstheorien auseinandersetzen.

Quelle: ntv.de

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