Politik

Die Folgen des Brexits "Der dicke Brocken kommt noch"

Ein dicker Brocken im Süden Großbritanniens. In der Ferne lässt sich das europäische Festland erahnen.

Ein dicker Brocken im Süden Großbritanniens. In der Ferne lässt sich das europäische Festland erahnen.

(Foto: REUTERS)

Der Weltuntergang blieb zwar bislang aus. Aber schon vor dem EU-Austritt leidet die britische Wirtschaft unter ihm. Und das Leiden könnte noch größer werden, glaubt Ulrich Hoppe von der deutsch-britischen Industrie- und Handelskammer. Auch der harte Brexit ist längst nicht vom Tisch.

ntv.de: An diesem Freitag verlässt Großbritannien die EU. Bis Ende des Jahres gibt es noch eine Übergangsfrist, in der alles bleibt, wie es ist. In der Zeit will London dann ein Freihandelsabkommen abschließen. Wie realistisch ist das?

Ulrich Hoppe: Prinzipiell lässt sich in dieser Zeit ein Freihandelsabkommen abschließen - aber es wird bestimmt kein detailliertes Abkommen sein. Dafür reicht die Zeit bei Weitem nicht aus. Und viele Fragen bleiben auch danach offen: Wie sieht es künftig mit gegenseitigen Anerkennungen und Zulassungen von Waren aus? Das wird sicherlich erst in Gesprächen ab dem kommenden Jahr geregelt werden. Premierminister Boris Johnson hat bereits klargemacht, dass er das regulative System der EU als Fessel empfindet und in vielen Bereichen eigene Wege gehen will. Welche, ist allerdings unklar.

Stellen sich die Unternehmen schon auf den Worst Case ein?

Man kann sich ja nur begrenzt auf eine unbekannte Situation vorbereiten. Die meisten Firmen haben aber getan, was sie tun konnten. Im Moment warten sie ab und hegen noch die Hoffnung, dass am Ende der gesunde Menschenverstand siegt. Dass in den kritischen Bereichen eine weitgehende Annäherung an das EU-Regelwerk bestehen bleibt und es somit für sie nicht ganz so teuer wird, wie es werden könnte.

Rechnen Sie noch mit einem harten Brexit, sollten sich London und Brüssel bis Ende des Jahres doch nicht einigen?

Durch die Verabschiedung des Brexit-Abkommens wird es nicht zu einem so schlimmen Szenario kommen, wie einst befürchtet. Aber natürlich: Die Klippe ist immer noch da - wenn auch vielleicht nicht mehr ganz so hoch.

Wird Johnson notfalls die Übergangsfrist verlängern?

Nein, das hat er deutlich abgelehnt. Es könnte höchstens sein, dass er bei einem rudimentären Freihandelsabkommen Ende des Jahres noch punktuellen, branchenspezifischen Verlängerungsphasen zustimmt. Das heißt, London und Brüssel würden sich gegenseitig verpflichten, in den nächsten ein bis zwei Jahren noch gewisse Normen einzuhalten und anzuerkennen.

Vor dem Brexit-Referendum gab es zahlreiche düstere Prognosen für die Wirtschaft. Aber ganz so schlimm scheint es bisher nicht gekommen zu sein. Waren die Warnungen übertrieben?

Seriöse Studien wie etwa vom Center of European Reform haben das mögliche Wachstumspotenzial Großbritanniens und das tatsächliche Wachstum seit dem Referendum 2016 analysiert. Ihr Ergebnis: Die britische Wirtschaft hat seitdem an potenzieller Wirtschaftskraft 3 Prozentpunkte eingebüßt, pro Jahr ungefähr ein Prozentpunkt. Im Moment wächst die britische Volkswirtschaft damit ungefähr genauso wie der Euroraum. Sie hätte aber das Potenzial, ein- bis eineinhalb Prozentpunkte mehr zu wachsen.

Wenn jetzt schon die Wirtschaft betroffen ist, wie schwierig wird es nach dem tatsächlichen Ausscheiden der Briten aus der EU?

Für die britische Wirtschaft wird es viel härter als für die deutsche. Der Handel der EU mit Großbritannien beträgt weniger als 10 Prozent, umgekehrt liegt der Handel Großbritanniens mit der EU bei deutlich über 40 Prozent aller Im- und Exporte.

Die britische Regierung hofft, schnell ein Freihandelsabkommen mit den USA abschließen zu können, um die Einbußen kompensieren zu können.

Ein Freihandelsabkommen mit den USA lässt sich nicht auf die Schnelle abschließen. Außerdem tauschen die Briten dann einen regulativen Gleichklang für über 40 Prozent ihres Handels gegen einen Gleichklang bei nur unter 20 Prozent ein. Das ist ökonomisch gesehen kein gutes Geschäft, zumindest kurz- und mittelfristig. Auch sind die handelspolitischen Maßnahmen der Amerikaner gerne mal etwas erratischer Natur. Da könnte Großbritannien am Ende unter die Räder geraten.

Wie sehr trifft der Brexit deutsche Unternehmen?

Ulrich Hoppe ist Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer in London.

Ulrich Hoppe ist Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskammer in London.

Vorwiegend sind die Branchen betroffen, die an internationalen Wertschöpfungsketten beteiligt sind, wie etwa die Automobilindustrie. Die Masse der deutschen Unternehmen ist aber hier vertreten, um den Markt zu bedienen. Und das werden sie auch künftig tun. Großbritannien bleibt ein spannender Markt, es ist ein relativ reiches Land mit 65 Millionen Konsumenten. Für deutsche Firmen kommt es in Zukunft darauf an, wie sich die britische Wirtschaft entwickelt, wie viel Geld der britische Konsument in der Tasche hat, wie viele deutsche Produkte er noch kaufen kann. Und natürlich kommt einiges auf sie zu: Bei Ein- und Ausfuhren steigen die Abfertigungsformalitäten und der Zeitaufwand, den man für den Transport einplanen muss. Das alles führt zu höheren Kosten und der Frage: Wer zahlt das? Der Produzent oder der Konsument?

Das heißt: Das Schwierigste steht noch allen bevor?

Der dicke Brocken kommt noch - und es ist ein Brocken, der über die Zeit größer wird. Wenn pro Jahr rund 1 Prozent an potenzieller Wirtschaftskraft verloren geht, dann sind das in zehn Jahren schon 10 Prozent. Das ist ein gewaltiger Brocken. Zumal sich ab dem nächsten Jahr die Wirtschaften Großbritanniens und der EU schrittweise auseinanderentwickeln werden und das alles zu mehr Kosten für die Unternehmen auf beiden Seiten führen wird.

Manche Unternehmen sind schon wegen des Brexits auf dem Rückzug.

Das ist der normale Wirtschaftskreislauf: Irgendwann zieht sich immer mal ein Unternehmen zurück, wenn es nicht mehr erfolgreich ist, und dann kann man das unter Umständen auf den Brexit schieben. Ob der wirklich der Grund dafür ist, sei dahingestellt. Wir sehen jedoch schon, dass manche Investitionen hier nicht mehr stattfinden, weil die Unternehmen - britische wie deutsche - nicht wissen, wie sich das Umfeld entwickelt. Ohne Investitionen wiederum wächst die Produktivität weniger und damit gibt es weniger Chancen auf mehr Wohlstand für den Durchschnittsbürger.

Johnson zeigt sich trotzdem sehr optimistisch und schwärmt von einem Singapur an der Themse.

Das ist unrealistisch. Vermutlich wird sich Großbritannien nun eher marktwirtschaftlich entwickeln und versuchen, den Standort dynamischer zu machen - im Gegensatz zur sehr regulierten EU-Wirtschaft. Aber auch die Briten erwarten bestimmte Standards bei Umwelt- und Arbeitsschutz, Produktsicherheit, Gentechnik und ähnlichem. Das kann Boris Johnson nicht ignorieren.

Mit Ulrich Hoppe sprach Gudula Hörr

Quelle: ntv.de

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