Expertin zu "Marder"-Zusage "Die Verbündeten müssen als Ausrede herhalten"
06.01.2023, 15:15 Uhr Artikel anhören
Die Bundeswehr nutzt den "Marder" selbst. Nach ntv-Informationen sollen die 40 Panzer, die noch im ersten Quartal 2023 an die Ukraine geliefert werden sollen, aus ihren Beständen kommen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Zehn Monate nach Beginn von Putins Großinvasion in der Ukraine schickt Deutschland Schützenpanzer. Warum tat sich Bundeskanzler Olaf Scholz mit diesem Schritt so schwer und warum müssen Kiews Truppen auf den "Leopard 2" weiter warten? Osteuropa-Historikerin Franziska Davies von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität über russische Kriegsziele und deutsche Illusionen.
ntv.de: Gestern Abend hat die Bundesregierung zugesagt, der Ukraine Schützenpanzer vom Typ "Marder" zu liefern. Auch aus Frankreich und den USA werden Panzer kommen. Hebt das die Hilfe des Westens auf ein neues Niveau?
Franziska Davies: Ja, die Ukraine fordert seit Langem westliche Panzer, insofern ist das ein richtiger und wichtiger, aber eben auch ein längst überfälliger Schritt der drei Länder. In Bezug auf Deutschlands Agieren ist durchaus ein Muster erkennbar: Man verweigert mit wenig überzeugenden Begründungen die Lieferung bestimmter Waffensysteme und zieht erst mit, wenn andere sich für ähnliche Lieferungen entscheiden.
Auf Forderungen, Waffen zu liefern, lautete die Replik aus dem Kanzleramt stets: keine deutschen Alleingänge. Ist das eine der aus Ihrer Sicht "wenig überzeugenden Begründungen"?
Das ist überhaupt nicht überzeugend. Einerseits beansprucht Scholz explizit eine militärische Führungsrolle Deutschlands in Europa, andererseits müssen die Verbündeten als Ausrede herhalten, dass Deutschland diese Führungsrolle nicht übernimmt. Bereits wenige Wochen nach der Totalinvasion forderten Militärexpertinnen wie Claudia Major "Leopard"-Panzer für die Ukraine. Da dies ein deutscher Panzer ist, muss jede Lieferung an die Ukraine von der Bundesregierung genehmigt werden. Aber statt die beanspruchte Führungsrolle hier wahrzunehmen und die Lieferungen zu koordinieren und voranzutreiben, blockiert die Bundesregierung und verweist auf die Verbündeten, die aber schon vor Monaten signalisiert haben, dass sie der Lieferung der "Leoparden" nicht im Weg stehen. Bis heute gibt es keine definitiven Zusagen für die "Leoparden" aus Deutschland.

Franziska Davies lehrt als Akademische Rätin am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München
(Foto: picture alliance / Franz Neumayr / picturedesk.com)
Wie wichtig wären die für die ukrainischen Truppen?
Man hat im Verlauf des Kriegs gesehen, wie wichtig, ja kriegsentscheidend, westliche Waffenlieferungen für die Ukraine sind. Nur so konnten weite Teile der seit 2022 besetzten Gebiete zurückerobert werden. Es ist für mich unklar, warum die Bundesregierung so agiert, aber angesichts mancher Äußerungen aus der SPD vermute ich, dass erhebliche Teile der Fraktion die angekündigte "Zeitenwende" eigentlich nicht mittragen wollen und zu bestimmten Entscheidungen gedrängt werden müssen. Den Preis für diese Haltung zahlt die Ukraine.
Der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hat der "taz" neulich auf das Kriegsjahr 2022 bezogen gesagt: "Ich hatte nicht vermutet, dass sich Menschen das hier noch gegenseitig antun." Teilen Sie seine Sicht?
Angesichts der russischen Kriegsverbrechen ist es infam hier von einer "Gegenseitigkeit" zu sprechen. Und es ist ein wichtiger politischer Entscheider, der das tut, das beunruhigt mich sehr. Dabei ist die Kriegssituation ganz eindeutig: Kein ukrainischer Soldat terrorisiert russische Zivilistinnen und Zivilisten. Keine russische Stadt wird von ukrainischen Bomben in Schutt und Asche gelegt. Aggressor und Opfer sind hier ganz klar zu benennen.
Wo sehen Sie die Gründe dafür, dass Mützenich genau das nicht tut?
Ehrlich gesagt bin ich etwas ratlos, warum das fast ein Jahr nach der russischen Totalinvasion immer noch passiert. Die Vernichtungsabsicht wird von Putin und seiner Entourage offen formuliert, in den von Russland besetzten Gebieten werden wir Zeugen einer genozidalen Besatzungspolitik. Viele konnten sich bis Februar 2022 möglicherweise nicht vorstellen, dass im Europa des 21. Jahrhunderts ein Staat noch aus einer neoimperialen, pseudo-historischen Mission heraus einen Krieg anzettelt, um einen Staat, den man als minderwertig, als historischen Fehler versteht, zu zerstören. Warum das aber immer noch geschieht, ist mir schleierhaft. Viele weigern sich offenbar die Realität anzuerkennen, womöglich weil sie sich dann von lang gehegten Vorstellungen vom Allheilmittel des "Dialogs" oder ihrer Romantisierung Russlands verabschieden müssten oder aber, weil es ihnen schwer fällt zu ihren Fehleinschätzungen zu stehen.
Wie verbreitet ist Ihrer Einschätzung nach die Vorstellung, dass es diesen Zerstörungswillen, wie Sie ihn eben beschrieben haben, in der heutigen Zeit gar nicht mehr geben kann?
Das ist schwer zu sagen, aber dass solche Stimmen immer wieder aus der größten Regierungspartei zu hören sind, ist schon sehr beunruhigend. Mitte Dezember hielt Olaf Scholz eine Rede vor dem Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft und erklärte darin, wenn Russland aufhöre, in seinem Nachbarstaat zu intervenieren, dann könne man zurückkehren zu den Wirtschaftsbeziehungen der Vorkriegszeit. Er hat noch nicht einmal gefordert, dass das Putin-Regime abtreten muss. Nach dem, was in der Ukraine schon passiert ist und noch immer passiert, kann es aber keine Rückkehr zu normalen Beziehungen geben.
Die Ukraine wehrt sich seit nun zehn Monaten gegen den russischen Überfall und wird noch immer von Stimmen aus dem Westen gedrängt, doch endlich mit Wladimir Putin zu verhandeln. Zuletzt hieß es gar vom Strafrechtler Reinhard Merkel, Kiew sei dazu verpflichtet, in Verhandlungen zu gehen. Ergibt das Sinn?
Nein, aus dem Völkerrecht lässt sich keinerlei Verpflichtung der Ukraine ableiten, mit Russland verhandeln zu müssen. Es ist im Gegenteil laut Völkerrecht völlig klar, dass die Ukraine ein Recht darauf hat, sich selbst zu verteidigen.
Und eine moralische Verpflichtung - etwa um die Bevölkerung vor weiterem Leiden zu schützen?
Ein Argument, das wir seit Monaten hören und das in jedem der offenen Briefe zu lesen war. Die deutsche Debatte dreht sich da wahnsinnig im Kreis. Interessanterweise geht die Aufforderung zu verhandeln immer an die Adresse der Ukraine, also an das Opfer und nicht an den Aggressor. Und spätestens seit Butscha müsste jedem klar sein, dass eine russische Teil-Besatzung nicht das Leid der Bevölkerung beenden würde. Besatzungen können sogar mehr Tote fordern als militärische Auseinandersetzungen. Alle, die dieses Argument nutzen, begehen denselben Fehler.
Nämlich welchen?
Sie beantworten nie die Frage, worüber die Ukraine denn verhandeln soll und kann, wenn sie vernichtet werden soll. Die Vernichtung der Ukraine ist das offen ausgesprochene Kriegsziel Russlands, und diese Tatsache wird bei den Forderungen nach Verhandlungen konsequent ausgeblendet. Wie soll die Ukraine verhandeln, wenn sie nur die Wahl hat zwischen Verteidigung und Vernichtung?
Das Gegenargument könnte lauten: Wenn Russland sich Teile der Ukraine zuschlagen darf, beendet es doch hoffentlich den Versuch, das Land zu vernichten.
Wir sehen aber etwas anderes. Wir sehen, dass in russisch besetzten Gebieten der Ukraine sofort eine Terrorherrschaft errichtet wird. Und sobald eine Ortschaft von der russischen Besatzung wieder befreit wird, erfährt man von Zivilisten, die dort gefoltert, verschleppt, erschossen wurden. Das Argument, die Ukraine habe eine Pflicht zu verhandeln, um den Krieg zu beenden, blendet aus, dass das in weiten Teilen der Ukraine zu einem Terrorregime der Russen führen würde.
Ein weiteres Argument, mit dem man die Ukraine zum Verhandeln auffordert, ist, dass das Risiko eines Atomkriegs zu hoch sei.
Ein Nuklearkrieg sollte vermieden werden, das ist ja ganz klar, und dieses Risiko muss man ernst nehmen. Würde man aber dieser Logik folgen, dass man sich als verantwortungsvoller Staat gegen eine Atommacht nicht wehren darf, eben um dieses Risiko auszuschließen, was für ein Signal würde das denn an alle anderen Mächte dieser Welt aussenden? Das Signal wäre: "Sobald Ihr euch Atomwaffen verschafft habt, könnt ihr machen, was ihr wollt." Das wäre ein extrem gefährliches Zeichen. Hinzu kommt: Das Diktum "Gegen eine Atommacht lässt sich kein Krieg gewinnen" ist falsch, das stimmt historisch nicht.
Welche Beispiele widerlegen es?
1989 zog die Sowjetunion nach zehn Jahren Krieg ihre Soldaten aus Afghanistan ab. 1973 erfolgte der Abzug der US-Soldaten aus Vietnam. 1962 erreichte Algerien nach dem Algerienkrieg seine Unabhängigkeit von Frankreich. Die USA und die Sowjetunion waren zum Zeitpunkt ihres jeweiligen Abzugs schon lange Atommächte, bei Frankreich erfolgte die nukleare Aufrüstung mehr oder weniger während des Algerienkriegs, offiziell war Frankreich seit 1961 Atommacht.
Es gibt also keine Argumente, die die Ukraine zum Verhandeln verpflichten. Aber könnte sie es nicht trotzdem tun? Viele sagen, Diplomatie kann nicht schaden.
Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt würden bedeuten, dass die Ukraine weite Teile ihres Territoriums aufgibt. Und sie könnte nicht mal sicher sein, ob nicht zu einem späteren Zeitpunkt ein neuer Angriff erfolgt. So wie die Vereinbarungen von Minsk 2014 dazu benutzt wurden, mit den sogenannten "Volksrepubliken" von Donezk und Luhansk ein Einfallstor in die Ukraine zu schaffen. Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt sind für die Ukraine keine Option, und die Debatte darum dreht sich in Deutschland seit zehn Monaten im Kreis.
Ist das aus ihrer Sicht nur lästig oder auch gefährlich?
Die Debatte ist insofern gefährlich, als die deutsche Unterstützung ja noch immer nicht so ist wie sie sein könnte. Erhebliche Teile der SPD haben den Krieg noch immer nicht begriffen und haben die Verantwortung Deutschlands auch noch immer nicht begriffen. Nun wird Deutschland zwar Schützenpanzer liefern, aber bezogen auf Kampfpanzer, etwa den "Leopard 2", wird weiter blockiert. Stattdessen wird der Bundeskanzler für seine Besonnenheit gelobt, aber klar ist: Dieses "Besonnenheit" genannte Zögern kostet in der Ukraine jeden Tag Menschen ihr Leben.
Mit Franziska Davies sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de