
Mal wieder im Zentrum des Geschehens: Thüringens AfD-Chef Björn Höcke.
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Die Aufforderung des AfD-Vorstands, der Flügel möge bis Ende April seine Selbstauflösung erklären, sieht aus wie der Sieg der Realos über die Radikalen. Dabei ist es andersherum.
Vergangene Woche erklärte das Bundesamt für Verfassungsschutz: Der Kreis um AfD-Funktionäre wie Björn Höcke und Andreas Kalbitz ist rechtsextrem, verfolgt Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung und wird ab sofort vom Inlandsgeheimdienst überwacht. Nun fordert der AfD-Parteivorstand, dieser Kreis, der Flügel genannt, solle bei seinem Treffen am Samstag erklären, sich bis Ende April aufzulösen. Es scheint, als wachse erneut der Druck auf den rechtsradikalen Teil der Partei. Kommt es rund sechs Jahre nach Gründung der Partei doch noch zum großen Showdown zwischen gemäßigten und radikalen Teilen der AfD?
Zunächst: So eindeutig wie sowohl die Erklärung des Verfassungsschutzes als auch Meuthens Forderung waren, so unklar sind deren Adressaten. Denn auch wenn der Flügel - mit eigenem Logo, eigener Internetpräsenz, eigenen Veranstaltungen - aussieht, wie eine trennscharf greifbare Parteiströmung, so ist er das in Wirklichkeit nicht. Der Flügel ist eher ein loses Netzwerk von Ultrakonservativen, Rechtsradikalen, Geschichtsrevisionisten. Ein Verzeichnis, wer dabei ist und wer nicht, gibt es nicht. Die Organisation ist informell, kein eingetragener Verein oder ähnliches. Auch der Verfassungsschutz kann nur schätzen, wie viele AfD-Mitglieder sich für den Flügel engagieren: etwa 7000.
Das wissen natürlich all jene, die den Appell, der Flügel möge sich nun auflösen, unterstützen. Und es müsste den Vorstandsmitgliedern, die heute diese Aufforderung unterzeichneten, eigentlich absurd erscheinen. Wen oder was fordern Sie da auf, sich aufzulösen? Soll Björn Höcke die Telefonnummer von Andreas Kalbitz aus seinem Handy löschen? Sollen die Flügel-Aktivisten ihre Fahnen im Keller einlagern, die Internetseite abstellen und dann ist das Problem beseitigt?
Schon vergangene Woche, als der Verfassungsschutz seine Entscheidung mitgeteilt hat, führte das in AfD-Kreisen zu der Befürchtung, dass die Beobachtung eben aufgrund der unklaren Struktur des Flügels schleichend auf die Gesamtpartei ausgeweitet werden könne. Das beweist, wie bewusst den allermeisten AfDlern das Problem der Abgrenzung von Flügel und Nicht-Flügel ist.
Meuthen auf Petrys und Luckes Spuren
Dass die AfD den Flügel als Konsequenz aus der Entscheidung des Verfassungsschutzes auflösen will, ist ohnehin aus mehreren Gründen eine leere Legende. Erstens ist die Auffassung, der Verfassungsschutz sei politisch gelenkt, in der AfD absolut mehrheitsfähig. All jene, die heute argumentieren, der Flügel müsse verschwinden, weil der Verfassungsschutz ihn beobachtet, haben gestern noch angeführt, der Geheimdienst werde instrumentalisiert, um die Partei klein zu machen. Und würde durch eine Flügel-Auflösung die Wahrscheinlichkeit, dass die Behörde ihre Beobachtung auf die Gesamtpartei ausweitet, nicht vielleicht sogar steigen? Immerhin gibt es durch Zugehörigkeit zu dem Netzwerk momentan noch Differenzierungsmöglichkeiten für die Verfassungsschützer. Was aber, wenn die besonders Rechtsradikalen sich künftig in einer homogeneren Masse verstecken? Würden dann nicht alle etwas verdächtiger werden?
Vor dem Hintergrund kann, muss eigentlich sogar die Aufforderung, den Flügel aufzulösen, als eine Wiederbelebung eines Konfliktes bewertet werden, der so alt ist wie die Partei selbst: Der Kampf zwischen moderaten und radikalen Kräften.
Dieses Mal kam der Vorstoß von Jörg Meuthen. Er hat Teilnehmern zufolge in der heutigen Vorstandssitzung den Vorschlag gemacht, der Flügel solle sich auflösen. Es ist eine Kriegserklärung an die Hardliner der Partei und Meuthen weiß genau, wen er sich da als Gegner gesucht hat. Sowohl Parteimitgründer Bernd Lucke hat sich am Widerstand gegen den Flügel seine Zukunft in der Partei verbaut als auch Frauke Petry, die einst das Parteiausschlussverfahren gegen Höcke prominent verteidigt hat. Genau aus diesem Grund hat Meuthen die offene Feindschaft mit Flügel-Vertretern stets gemieden. Im Gegenteil: Er besuchte sogar das Kyffhäuser-Treffen, ein jährliches Stelldichein der AfD-Extremisten und sagte: "Der Flügel ist integraler Bestandteil" der Partei.
Der neuerliche Versuch, die Radikalen in die Schranken zu weisen, könnte dieses Mal aber anders verlaufen, weil Meuthen nicht allein ist: Ko-Parteichef Tino Chrupalla, der den Flügel auch einst als "Bestandteil der Partei" bezeichnete und dem gute Beziehungen zu Höcke nachgesagt werden, hat ebenso unterschrieben wie die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel. Auch sie, ursprünglich Flügel-Gegnerin, hatte sich - vermutlich aus Angst vor zu mächtigen Gegnern - in der jüngeren Vergangenheit den Radikalen deutlich angenähert. Noch im Februar bezeichnete sie den Flügel als "ganz wichtige Strömung". Elf weitere Vorstandsmitglieder haben die Aufforderung unterzeichnet. Es gab nur eine Enthaltung und eine Stimme dagegen - die kam von Kalbitz selbst. Dass fast der komplette Vorstand gegen den Flügel agiert, unterscheidet nun das neue Kapitel des parteiinternen Streits von den vergangenen.
Zusätzlich hat die Coronavirus-Krise auch die Rahmenbedingungen für die AfD grundsätzlich verändert. Das Land befindet sich im Ausnahmezustand, die Grenzen sind dicht. Es interessiert derzeit nur sehr wenige Menschen, ob Abschiebungen konsequent durchgeführt werden, der Islam in die Schranken gewiesen werden müsste oder der "Öko-Wahn" die Automobilindustrie zerstört. Und das wird vermutlich auf absehbare so bleiben. Es ist die Zeit der Regierungsverantwortlichen, nicht der Opposition. Die AfD ist nach einer langen Zeit, in der sie offensiv provoziert hat, den Diskurs teilweise beherrschen konnte, in einen bedeutungslosen Bereich des politischen Spielfelds geraten. Auf Fragen der aktuellen Krise hat sie keine Antworten. Provokationen durch AfD-Akteure sind derzeit auch parteiintern nicht gefragt - erst recht nicht von Rechtsextremisten wie Höcke oder Kalbitz.
Der Flügel bringt der AfD Erfolge, nicht andersherum
Möglicherweise könnte der Kampf dieses Mal also anders ausgehen. Doch das führt uns wieder zu der Frage vom Anfang: Was passiert eigentlich, wenn der Flügel aufgelöst wird? Höcke wäre dann Teil einer nach außen hin homogener wirkenden Partei. Sein Flügel-Freund Kalbitz ist noch in eine Affäre um eine frühere Mitgliedschaft in die Neonazi-Organisation Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ) verwickelt, die auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD steht. Sollten sich die Vorwürfe als korrekt herausstellen, wäre seine Zeit in der Partei vorbei. Aber wird es so weit kommen? Wird sich Kalbitz aus der Partei schmeißen lassen und Höcke sich sein Netzwerk kaputt machen lassen? Es geht immerhin um die einflussreichste Parteiströmung innerhalb der AfD, die er ganz maßgeblich geformt hat.
Warum sollten sich Flügel-Figuren wie Höcke, Kalbitz oder Sachsen-Chef Jörg Urban in die Schranken weisen lassen? Sie haben der AfD ihre größten Wahlerfolge eingebracht. Werte zwischen 20 und 30 Prozent in allen Landtagen im Osten hat die Partei nicht trotz ihrer radikalen Positionen errungen, sondern wegen ihnen. Die komplette Vernetzung mit anderen neurechten Bewegungen und Akteuren läuft nicht über vermeintlich gemäßigte Funktionäre wie Jörg Meuthen, sondern über die Hardliner der Partei, den Flügel. Tausende AfD-Mitglieder sehen im Flügel den Grund für den Erfolg der AfD.
Und die Wähler? Während die AfD im Westen demografisch gesehen eher eine Altherren-Partei mit mäßigen Erfolgen ist, hat die "Ost-AfD" - man könnte auch sagen: der Flügel - die Gesellschaft in Bundesländern wie Sachsen, Brandenburg oder Thüringen viel stärker durchdrungen. Sowohl in der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen als auch bei den 30- bis 44-Jährigen wurde die Partei bei der Landtagswahl in Sachsen stärkste Kraft. Andere Untersuchungen - wie eine Forsa-Umfrage vom November 2019 - zeigen, wie verbreitet Rechtsextremismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien bei den Wählern sind - und umso stärker im Osten. Zusammengefasst: Die AfD ist im Osten gerade wegen Höcke und den Seinen so erfolgreich. Und sie ist dort so erfolgreich wie nirgendwo sonst in der Republik.
Wenn fast der komplette Vorstand der Partei in dieser Gemengelage die Auflösung des Flügels fordert, mag die Wahrscheinlichkeit, dass der Vorstoß dieses Mal gelingt, also so wahrscheinlich sein wie nie zuvor. Es ist aber ebenso wahrscheinlich, dass der erfolgreiche, weil radikale Teil der Partei, der nie zuvor so selbstbewusst war wie jetzt, seine Konsequenzen daraus zieht und für sich allein arbeitet. Das würde ein ebenfalls altes Szenario wieder auf die Tagesordnung setzen: eine Aufspaltung der AfD.
Quelle: ntv.de