Fortschritte, kein Durchbruch EU will bis zuletzt mit London verhandeln
22.12.2020, 20:19 Uhr
Vorgeschmack auf einen No-Deal-Brexit? Lkws stehen in Großbritannien Schlange.
(Foto: dpa)
Von einem "entscheidenden Punkt" spricht EU-Chefunterhändler Barnier. Die Handelsgespräche mit Großbritannien stehen unter großen Zeitdruck. Einen Durchbruch gibt es nicht, wohl aber kleine Annäherungen. Tausende Lkw-Fahrer bekommen derweil einen Vorgeschmack auf einen No-Deal-Brexit.
Der erhoffte Handelspakt der Europäischen Union mit Großbritannien steht wenige Tage vor Ende der Brexit-Übergangszeit weiter auf der Kippe. Nach Informationen über Bewegung in den Verhandlungen hieß es erneut, beim Streitpunkt Fischerei stecke man fest. Auch beim Thema faire Wettbewerbsbedingungen seien einige Punkte offen, erklärte ein Diplomat nach einer Unterrichtung durch EU-Unterhändler Michel Barnier. Dieser sagte vor seinem Termin bei den Vertretern der EU-Staaten: "Wir sind jetzt wirklich an einem entscheidenden Punkt und machen eine letzte Anstrengung." Er werde weiter arbeiten und die EU-Staaten und das Europaparlament auf dem Laufenden halten.
Die EU ist laut Barnier bereit, "bis zur letzten Sekunde" mit Großbritannien zu verhandeln. "Unsere Tür bleibt bis Jahresende und darüber hinaus offen", sagte er nach Angaben aus übereinstimmenden Quellen bei einem Treffen mit Vertretern der Mitgliedstaaten. Zuvor hatte demnach ein neues Angebot der Briten beim Thema Fischerei keinen Verhandlungsdurchbruch gebracht.
Ein EU-Diplomat sprach von erzielten Fortschritten. Die meisten Themen seien vorläufig abgeschlossen oder fast. "Leider bewegt sich das Vereinigte Königreich noch nicht genug, um eine Einigung beim Fisch zu schaffen." Die Verhandlungen gingen aber weiter. "Die EU wird Großbritannien nicht die Tür zuschlagen und bleibt bereit, sogar nach dem 1. Januar zu verhandeln."
Ein britischer Regierungsvertreter betonte, die Unterhändler würden weiter hart an einer Einigung arbeiten. Doch die Differenzen blieben erheblich. Ein Vertrag müsste aus britischer Sicht "vor dem 1. Januar" stehen. Er bekräftigte, dass Großbritannien die Übergangsfrist nicht verlängern werde, denn das würde bedeuten, dass das Land weiter an EU-Regeln gebunden wäre und weiter in die EU-Kasse zahlen müsste. "Wir müssen endlos verlängerte Verhandlungen bis ins nächste Jahr vermeiden und unseren Bürgern und Unternehmen so schnell wie möglich Gewissheit geben." Auch in Großbritannien waren jedoch Forderungen nach einer Fristverlängerung laut geworden, unter anderem vom Londoner Bürgermeister Sadiq Khan.
Am 31. Dezember endet die Brexit-Übergangsphase. Dann scheidet Großbritannien aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion aus. Beide Seiten hoffen auf einen Handelsvertrag in letzter Minute, um Zölle und hohe Hürden in den künftigen Wirtschaftsbeziehungen abzuwenden. Weil die Zeit zu knapp ist, könnte ein mögliches Abkommen aus Sicht des Europaparlaments nicht mehr rechtzeitig ratifiziert werden. Denkbar ist eine vorläufige Anwendung ohne offizielle Bestätigung. Auch das benötige jedoch einige Tage Vorlauf, hieß es aus einer dritten Quelle. "Wenn es also vor Weihnachten keine Einigung gibt, wird auch die vorläufige Anwendung immer unwahrscheinlicher."
Experte skizziert möglichen Kompromiss
Am Montag sprachen Premierminister Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Telefon über die Verhandlungen und die Corona-Krise. Ergebnisse wurden nicht bekannt. Wie ein Kompromiss beim Knackpunkt Fischerei aussehen könnte, skizzierte der ehemalige britische Regierungsberater Raoul Ruparel in einem Gastbeitrag für das Nachrichtenportal "Politico". Demnach könnten die Fangrechte der EU-Fischkutter über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg nach und nach um 35 Prozent reduziert werden. Die Briten bekämen weiter die Möglichkeit, ihre Fische zollfrei auf den europäischen Markt zu bringen. Flankiert werden soll das mit der Möglichkeit für Brüssel, Zölle für den Fall einzuführen, dass die Briten den Zugang für Fischer aus der EU weiter einengen - jedoch nur in von unabhängiger Seite festgelegter Höhe.
Nach Angaben der "Financial Times" bestätigten EU-Kreise, dass es ein ähnliches Angebot aus London gegeben habe. Die Offerte reichte der EU aber offenbar nicht. Öffentlich schweigen beide Seiten zum Stand. Aus Verhandlungskreisen hieß es, man bewege sich "in Zeitlupe" aufeinander zu.
Fischerei ist nur ein vergleichsweise kleiner Wirtschaftszweig - das Münchner Ifo-Institut schätzt den Gesamtwert der EU-Fangmengen in britischen Gewässern auf etwa 520 Millionen Euro. Doch hat er für EU-Küstenstaaten wie Frankreich hohe symbolische und politische Bedeutung. Auch für Großbritannien ist es ein Kernthema des Brexits und der nationalen Selbstbestimmung.
Tausende Lkw-Fahrer gestrandet
Sollten die Verhandlungen scheitern, könnte sich das durch die Coronavirus-Pandemie verursachte Chaos an Großbritanniens Häfen noch verschlimmern. Frankreich hatte am Sonntag den Warenverkehr von Großbritannien am Ärmelkanal gestoppt, nachdem die britische Regierung ihre Erkenntnisse über eine neue Variante des Coronavirus mitgeteilt hatte. Manch einer sah in dem Chaos am Ärmelkanal einen Vorgeschmack auf einen möglichen No-Deal-Brexit. Inzwischen hat Paris angekündigt, die Blockade lockern zu wollen. Von diesem Mittwoch an sollen Fahrzeuge wieder den Ärmelkanal überqueren dürfen - wenn Fahrer einen negativen Corona-Test vorlegen.
Nach Angaben des Branchenverbandes BGL sitzen Tausende Lkw-Fahrer wegen der Sperrung des Ärmelkanals in Großbritannien fest. Darunter seien auch viele Deutsche, die Umstände seien desolat, teilte der Bundesverband Güterverkehr, Logistik und Entsorgung mit. "Statt sich auf dem Weg nach Hause zu befinden, campieren diese Menschen nun am Wegesrand, oft ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Versorgungsmöglichkeiten." Der BGL forderte, den Fahrern die Rückkehr nach Hause zu ermöglichen. Seit Beginn der Pandemie hätten sie mitgearbeitet, um die Versorgung von Wirtschaft und Bevölkerung sicherzustellen. "Jetzt sind genau diese Fahrer unter Bedingungen festgehalten, die unter humanitären Aspekten schlicht nicht tragbar sind", kritisierte der BGL.
2180 Fahrzeuge seien auf dem stillgelegten Flughafen Manston geparkt worden, sagte eine Sprecherin der Kommunalverwaltung der südostenglischen Grafschaft Kent. Etwa 630 weitere Lastwagen parkten auf mehreren Spuren der Autobahn M20 zwischen London und dem Hafen Dover. Handelsverbände gingen sogar von 4000 Lastwagen aus, die derzeit auf eine Ausreise warten. Frische Lebensmittel im Millionenwert seien bereits verdorben, klagten Händler. Wann es für die wartenden Fahrer weiter geht, ist unklar.
Quelle: ntv.de, mli/dpa/AFP