Pressestimmen zum Referendum "Eine Tragödie für das türkische Volk"
18.04.2017, 10:44 Uhr
Neues Sultanat - Erdogan baut die Türkei um
(Foto: AP)
Der Ausgang des Referendums in der Türkei wird die Türkei nachhaltig verändern. Die europäischen Zeitungen können dabei keinen Grund zum Feiern ausmachen. Sie sehen indes ein gespaltenes Land.
"The Guardian", Großbritannien
"Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass die Türkei aufgrund des Referendums vom Sonntag, (...) in ein erschreckendes und unvorhersehbares neues Kapitel ihrer politischen Geschichte eingetreten ist. Mit der Umsetzung dieser Reformen wird die Türkei fast in ein Sultanat verwandelt (...). Für Europa und für die westlichen Verbündeten der Türkei in der Nato dürfte diese Transformation bedeutende Folgen haben. Die ohnehin schon angespannten Beziehungen werden sich weiter verschlechtern. Und das zu einer Zeit, da die Kooperation der Türkei in der Flüchtlingsfrage besonders wichtig ist."
"The Independent", Großbritannien,
"Die Türkei ist zu einer Wahl-Diktatur geworden. Erdogan wird die Machtbefugnisse einer exekutiven Präsidentschaft wie im französischen oder im amerikanischen System haben, aber es wird nicht einmal annähernd die gleichen einschränkenden Kontrollen durch eine unabhängige Legislative, die Justiz, eine lebenhafte Zivilgesellschaft oder freie Medien geben. Die Türkei hat sich aus der demokratischen Welt zurückgezogen. Das ist eine Tragödie für das türkische Volk."
"Neue Zürcher Zeitung", Schweiz
"Was ist das nur für ein Präsident, dem in der Stunde seines größten Triumphes nichts Besseres einfällt, als über die Wiedereinführung der Todesstrafe zu sprechen? Da steht ein Mann kurz vor der Erfüllung seines politischen Lebenstraums, da schäumt er schon wieder. (...) Eher orientiert sich die 'neue Türkei' heute an ihren autokratischen Nachbarn im Osten, Norden und Süden. Den Jahrhunderttest, islamische Normen und rechtsstaatliche, demokratische Regeln zu vereinbaren, haben der türkische Präsident und seine AKP damit nicht bestanden."
"La Repubblica", Italien
"Das Ergebnis von Sonntag lässt uns eine Türkei wiederentdecken, die alles andere als von Erdogan komplett unterworfen oder verführt wurde. Eine Gesellschaft ist wieder aufgeblüht, die zum Teil angezogen wird von einem nationalistischen Autoritarismus, von einem stark religiösen Konzept, (...) gleichzeitig aber zum Teil erobert worden ist vom westlichen Liberalismus."
"La Vanguardia", Spanien
"Dieses Ergebnis hatte wohl niemand gewollt. Nicht einmal Erdogan. Das äußerst knappe Ergebnis und vor allem die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Auszählung tragen nicht dazu bei, seine Autorität zu stärken. Diejenigen, die von Sieg sprechen, können dies nicht tun, ohne noch andere Wörter hinzuzufügen: Pyrrhussieg, minimal, eng, bitter, umstritten. (...) Ein großes Paradox in der modernen Türkei ist, dass Erdogan, der sich selbst oft als allmächtiger Herrscher darstellt, sich bedroht fühlt. Und das Ergebnis des Referendums wird dazu beitragen, dieses Gefühl noch zu verstärken."
"El País", Spanien
"Damit positioniert sich die Türkei vor den Toren des Clubs der so genannten illiberalen Demokratien, will heißen: politischen Systemen, bei denen zwar regelmäßig gewählt wird, wo es aber keine Gewaltenteilung gibt und somit auch keine realen Möglichkeiten eines Machtwechsels oder der Informationsfreiheit, sondern stattdessen zusätzliche Einschränkungen der individuellen Freiheiten."
"Politiken", Dänemark
"Die Türkei hat es nicht leicht. So weit hat Präsident Erdogan Recht. Ein militärischer Putschversuch im Sommer wäre fast gelungen. Eine kurdische Guerilla rebelliert in mehreren Städten. Der Terror hat schon zu viele Leben gekostet und ist immer noch eine Bedrohung. Und ein blutiger Krieg wütet im Nachbarland Syrien. Aber dass Erdogans neue Verfassung, die am Sonntag bei einer Volksabstimmung angenommen wurde, die Lösung für die Instabilität der Türkei sein soll, ist auf bedrohliche Weise falsch. (...) Weder die Bürger der Türkei, die EU noch die Nato haben ein Interesse daran, zu ignorieren, dass Erdogan der Demokratie in der Türkei die Luft abschnürt."
"de Volkskrant", Niederlande
"Eine Abstimmung, bei der die Wähler jubelnd die letzte Hürde für die Konzentration der Macht in den Händen des geliebten Führers wegräumen sollten, geriet zu einer Demonstration der Spaltung. (...) Es ist bemerkenswert, dass es so viel internen Widerwillen gegen den Abbau der türkischen Demokratie gibt. Aber das könnte Erdogan auch dazu veranlassen, seine Kampagne gegen Rivalen und die Opposition nun mit ganzer Kraft fortzusetzen."
"De Morgen", Belgien
"Präsident Erdogan sagt goldene Zeiten für die Türkei ab 2023 voraus, dem 100. Jahrestag der türkischen Republik. Doch wenn er dieses Imperium auf den wirtschaftlichen Pfeilern aufbauen will, denen die Türkei in den vergangenen zwei Jahrzehnten das Wachstum ihres Wohlstands verdankte, kann er sich eine weitere Entfremdung vom Westen nicht leisten. Zudem muss Erdogan erst noch die Präsidentenwahl im Jahr 2019 gewinnen, bevor er seinen osmanischen Traum verwirklichen kann."
"Trud", Bulgarien
"Nach dem Referendum erwachte die Türkei gespalten in zwei Teilen, zwischen denen es eine tiefe Kluft gibt. Es handelt sich um einen Unterschied bei der Zivilisationsansicht, wie sich der Staat entwickeln soll. Die Spannung wird wachsen. Die kommenden Monate werden kritisch sein."
"Pravda" Slowakei
"Wenn ein Despot über etwas abstimmen lässt, dann tut er es nicht, weil er der Gegenseite die Chance geben will, ihn zu besiegen. Sondern nur, um dem, was er ohnehin machen wollte, den Schein einer Legitimität zu geben."
"Lidove noviny", Tschechien
"Die Tatsache, dass die Türken ein Präsidialsystem gewählt haben, stellt die Welt nicht auf den Kopf. Eher zeigt es die Dinge so, wie sie sind - nämlich, dass die Türken das Führerprinzip der liberalen Demokratie vorziehen. Das interessanteste Detail versteckt sich woanders: Die größten Bastionen des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan sind neben den ländlichen Regionen die türkischen Wähler in Deutschland, Dänemark, Belgien und Österreich. Was ist da falsch gelaufen? Eine klare Antwort darauf fehlt bisher, aber die Vorstellung, dass aus seit Generationen in der EU lebenden Türken neue deutsche Weltbürger werden, ist gescheitert."
Quelle: ntv.de, jwu/dpa