"Etwas ist zerbrochen" Argentiniens Präsident Milei schwankt mit Kettensäge am Klippenrand
26.10.2025, 18:39 Uhr
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Argentiniens Präsident Javier Milei - nach zwei Jahren auf dem Prüfstand.
(Foto: REUTERS)
Im ersten Amtsjahr hatte Argentiniens "Reißt alles nieder"-Präsident Milei hohe Zustimmungswerte. Doch während die Stimmung im Land kippt, kündigt der Libertäre weitere Reformen mit der Kettensäge an. Die Kongresswahl und die USA entscheiden über Mileis Zukunft.
Es dämmert über dem Paraná, der Lebensader der argentinischen Exportwirtschaft. Vor der Großstadt Rosario liegen zwei Tanker vor Anker, Polizeiboote patrouillieren. Von einer Bühne auf der Uferpromenade dröhnt pausenlos Musik in Richtung der Treppen gegenüber und dem Platz davor, der sich mit Menschen füllt. Sie kommen, um Präsident Javier Milei bei seinem Wahlkampfabschluss zu sehen. Ein Mann im Löwenkostüm zündet violettfarbenen Rauch, die Besucher schwenken argentinische Fähnchen, eine Kapelle spielt auf Kommando bekannte Melodien. Nach Stunden entlädt sich die Anspannung des Wartens. Milei kämpft sich vom oberen Treppenabsatz durch die wogende Menge bis auf die Bühne.
Hier, etwa vier Autostunden von Buenos Aires entfernt, möchte der selbstbetitelte "Anarchokapitalist" nach turbulenten Monaten ein positives Jahresende einleiten. Er und seine Verbündeten versuchen weiterhin, die Argentinier davon zu überzeugen, dass der Markt das Leben besser ordnen kann als der Staat. Und dass sie deshalb bei der Kongresswahl am heutigen Sonntag der "Kettensäge" weiter Geleit geben, indem sie Kandidaten seiner Partei La Libertad Avanza ("Die Freiheit schreitet voran") ihre Stimmen geben.
Milei, der mit seiner radikalen Rhetorik gegen Staat, Sozialgesetze und Linke zu einem Paladin der neuen internationalen Rechten geworden ist, benötigt mindestens in einer der beiden Kongresskammern ein Drittel der Sitze, allein mit seiner Partei, oder mit Verbündeten. Dann könnte er seine Agenda per Dekret verordnen sowie unliebsame Gesetze per Veto stoppen. Gewählt wird die Hälfte des Abgeordnetenhauses und ein Drittel des Senats. Umfragen deuten darauf hin, dass er es gerade so über seine selbst gesetzte Ziellinie schaffen könnte. Dafür inszeniert sich Milei nicht nur an diesem Donnerstagabend irgendwo zwischen Rocksänger, Messias und Politiker.
Ariel Álvarez und Franco Simonetti unterstützten Javier Milei beim dessen Wahlkampfabschluss in Rosario.
(Foto: Roland Peters)
"Die vorherige Regierung hat sehr hohe Inflation verursacht", meint der 18-jährige Ariel Álvarez, der mit einem Freund gekommen ist, um Milei zu unterstützen. Die beiden haben ein Schild mit dem Namen ihres Heimatorts Gálvez gebastelt. "Als ich kleiner war, habe ich zu Hause miterlebt, wie die Preise praktisch alle zwei Wochen stiegen, manchmal konnten wir uns kaum Lebensmittel leisten. Deshalb habe ich ihn vor zwei Jahren gewählt." Weil Milei die offizielle Inflation von über 100 auf etwa 30 Prozent in diesem Jahr gedrückt hat, wird Ariel Álvarez auch am Sonntag die Kandidaten von Mileis Partei "La Libertad Avanza" wählen: "Er hat sein Versprechen erfüllt."
Korruptionsskandale und flehende Worte
Ins Amt getragen wurde der Libertäre vorwiegend von Argentiniern wie Ariel Álvarez: jung und männlich. Unter ihnen ist die Unterstützung laut Umfragen auch weiterhin die größte in der Bevölkerung. Aber die allgemeine Zustimmungsrate bröckelt seit Jahresanfang. Das Vertrauen in den Libertären und dessen Regierung wurde von mehreren Skandalen erschüttert. Und die Hauptsorge der Argentinier ist laut Umfragen nun nicht mehr die Inflation, sondern Korruption.
Milei hat seinen Weg durch die Menschenmenge auf die Bühne gefunden, die Sonne ist untergegangen, in künstlichem Nebel und Scheinwerfern entwickelt sich ein Wechselspiel mit dem Publikum. Milei lobt insbesondere die andere Hand an der Kettensäge, Deregulierungsminister Federico Sturzenegger - der habe "10.000 Strukturreformen in 20 Monaten" umgesetzt. Die Menge antwortet per unterstützendem Sprechgesang. "Es ist schwierig, in 20 Monaten ganze 100 Jahre der Dekadenz rückgängig zu machen", fügt er fast entschuldigend hinzu. So geht das eine ganze Weile - Milei sagt etwas, die Anwesenden antworten mit Sprechchören und Gesängen; immer wieder setzt die Kapelle ein.
"Bitte lasst nicht nach", fleht der Präsident. "Wir sind auf dem richtigen Weg und wir brauchen den Kongress, um die Inflation und Kriminalität zu besiegen." So klingen Durchhalteparolen. Die Pläne der Kettensäge für die kommenden zwei Jahre sind weitreichend: Es soll eine weitere Rentenreform sowie eine Arbeitsrechtsreform und mehr geben. Trotz seiner zwei Jahre im Amt präsentiert sich Milei weiterhin als Außenseiter, schimpft auf "die Kaste", also die Politiker sowie die Wirtschaft, die sich gegenseitig gestützt hätten; und gegen die Peronisten wie Ex-Präsidentin Cristina Kirchner, die wegen Korruption eine Haftstrafe absitzt. Mileis Kabinett und Umfeld sind gespickt mit Großunternehmern und Finanzmarktexperten. Und er hat inzwischen selbst mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen.
"Etwas ist zerbrochen"
Anfang des Jahres war der Libertäre, der sich wie kein Zweiter in der argentinischen Politik in den sozialen Netzwerken und damit unter der jüngeren Wählerschaft bewegt, am Betrug mit der Memecoin-Kryptowährung "Libra" beteiligt. Im August tauchten Sprachnachrichten auf, aus denen hervorgehen soll, dass Mileis Schwester und Stabschefin Karina und andere Beteiligte illegal Staatsgelder abgezweigt haben. Und kurz vor der Wahl trat José Luis Espert zurück, sein wichtigster Kandidat für den Kongress. Im Jahr 2019 hatte Espert 200 Millionen Dollar vom inzwischen in den USA inhaftierten Drogenhändler Federico Machado erhalten.
"Der Fall Libra hat Milei bloßgestellt", meint Santiago Siri, argentinischer Experte in Technologie und Krypto sowie früherer Regierungsberater, in seiner Wohnung in einem gehobenen Wohnviertel von Buenos Aires: "Es war Betrug." Im Gang steht ein alter Computer C64, in der Bücherwand des Büros ein gemeinsames Foto mit Ethereum-Erfinder Vitalik Buterin. Man könne so viele gute Sachen mit Kryptowährungen machen, schüttelt Santiago Siri den Kopf, aber der Präsident habe ein Treffen mit Buterin blockiert und sich stattdessen für einen Unbekannten und Libra entschieden. "Etwas ist dabei zerbrochen zwischen der Wählerschaft und Milei", meint er. Und laut Sisi nutzten "fast alle jungen Leute" Kryptowährungen.
Milei hatte gewarnt, das erste Jahr werde hart, danach gehe es aufwärts. Nun sind es fast zwei Jahre. Die Inflation geht nach unten, die Armutszahlen auch - zumindest gibt das die staatliche Statistikbehörde Indec an, die laut Experten mit veralteter Methodik misst. Die Mieten explodieren seit Mileis Amtsantritt, liegen weit über der Inflation und steigen schneller als die Gehälter. Sie werden in den offiziellen Statistiken zur Armutsrate und Inflation praktisch nicht berücksichtigt.
Arbeitsmarktzahlen zeigen den Verlust von rund 250.000 Jobs, also 2,4 Prozent und 18.000 Firmenpleiten, dazu kommen zehntausende entlassene Staatsangestellte. Rund 80 Prozent der Argentinier sagen, sie hätten 2025 bereits den Gürtel enger schnallen müssen, und eine Mehrheit, dass es dem Land schlechter als im Vorjahr gehe. Nur noch 34 Prozent der Argentinier glauben, dass es besser wird.
Wo ist der Boom?
In Nordwesten von Buenos Aires, etwa eine Stunde Autofahrt von der Stadtgrenze entfernt, sind auf der Zufahrtsstraße zum Industriepark Pilar, dem größten Argentiniens, Brandspuren zu sehen. Vor dem Fabriktor des Unternehmens Ilva steht auf hochwertigen Keramikbodenplatten ein Plastikplanen-Verschlag; ein paar Männer sitzen auf Plastikstühlen und trinken Mate-Tee, andere schnippeln drinnen gespendete Zwiebeln für Empanadas klein. Gegenüber flattert ein selbst gemaltes Banner im Wind: "300 Arbeiter und Familien auf der Straße".
"Seit fast zwei Monaten kampieren wir hier", regt sich der Gewerkschaftsvertreter Marcelo Barrionuevo auf, der mit seinen Kollegen gemeinsam Abfindungen einfordert: "Wir alle haben hier seit rund zwei Jahrzehnten gearbeitet, da drin ist ein Teil unseres Lebens", deutet er durch das Tor. Eines Montagmorgens standen sie vor dem verschlossenen Eingangstor. Der 46-Jährige und die gesamte Belegschaft sind aus Protest schon in die Hauptstadt marschiert, haben die Panamericana und die Zufahrtsstraße blockiert. "Die Unternehmer nutzen aus, dass Milei die Arbeitsgesetze aus dem Fenster wirft", meint Marcelo Barrionuevo. Er hat sieben Kinder. "Sie sind wütend und angespannt, weil sie ihren Vater noch nie haben weinen sehen", erzählt er.
Marcelo Barrionuevo und 299 andere haben ihren Job verloren. Er hält nichts von Milei.
(Foto: Roland Peters)
Die Besitzer geben wirtschaftliche Schwierigkeiten als Grund für ihren Schritt an, haben der Gewerkschaft zufolge jedoch investiert, bevor sie alle feuerten. Inzwischen hat das Unternehmen Insolvenz angemeldet. Um die neuen, teuren Maschinen in Gang zu setzen, stehen für die Wiedereröffnung laut der Gewerkschaft schon wesentlich jüngere Arbeiter bereit - die würden aber nur noch höchstens die Hälfte von den bisherigen verdienen.
Und so steht Milei mit seiner Kettensäge schwankend in der Nähe des Klippenrands, bislang noch abgesichert von Krediten aus dem Ausland. Die argentinische Zentralbank hat kaum eigenes Geld, um die Inflation weiterhin einzudämmen, und derzeit verhandelt die Casa Rosada mit einer Gruppe von US-Banken, um mit einem neuen Kredit über 20 Milliarden Dollar im kommenden Jahr ihre Schulden bedienen zu können. Viel hängt von der Unterstützung von US-Präsident Donald Trump ab. Ob sich das und die Probleme im Land im Wahlergebnis ausdrücken werden, ist die eine große Frage. Die andere, wie das Weiße Haus die Resultate bewertet. An beiden Antworten hängt Mileis politische Zukunft.
Quelle: ntv.de