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Mieten im Gesetz des Dschungels "Die Folgen von Javier Mileis Politik sind dramatisch"

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Bei Argentiniens Kongresswahl am Sonntag steht indirekt auch Präsident Mileis bisherige Politik der "Kettensäge" gegen den Staat zur Abstimmung.

Bei Argentiniens Kongresswahl am Sonntag steht indirekt auch Präsident Mileis bisherige Politik der "Kettensäge" gegen den Staat zur Abstimmung.

(Foto: REUTERS)

Wohl keine Maßnahme des argentinischen Präsidenten Javier Milei steht so exemplarisch für seine Politik der "Kettensäge" wie die Abschaffung des Mieterschutzes. Unter dem Libertären herrscht für die Menschen seit fast zwei Jahren das Gesetz des Dschungels. "Die Folgen sind dramatisch", sagt Gervasio Muñoz, der Vorsitzende von Inquilinos Agrupados, der wichtigsten Mietervertretung in Argentinien, im Interview mit ntv.de. Für seine Organisation bedeutet die derzeitige Regierung eine historische Zäsur. Sie bereitet sich bereits auf die Zeit nach Milei vor.

ntv.de: Herr Muñoz, Präsident Javier Milei hat mit seinem Amtsantritt Ende 2023 etwas getan, was angesichts der hohen Mietpreise auch in Deutschland wahrgenommen wurde - er hat das Mietgesetz abgeschafft, und damit den Schutz der Mieter durch den Gesetzgeber.

Gervasio Muñoz: Seither ist alles dereguliert, also Grundstückswerte, Wohnraumwert, Miethöhe, leer stehende Wohnungen, Kurzmieten an Touristen, Regeln zur Mietlänge. Es gibt ein paar Ausnahmen. Der Vermieter kann den Mietvertrag unter sehr geringfügigen Voraussetzungen einseitig kündigen. Der Mieter kann ihn üblicherweise erst nach sechs Monaten beenden, für eine Strafzahlung von 10 Prozent der kompletten Mietzahlungen der restlichen Vertragsdauer.

Es gilt nun das "Gesetz des Dschungels", wie es ein Kollege von Ihnen damals ausdrückte. Hat es das Wohnungsproblem gelöst?

Nein. Es gibt 15 Millionen Haushalte in Argentinien. In der Stadt Buenos Aires gehen wir von etwa 150.000 leer stehenden Wohnungen aus, landesweit sogar von etwa 3 Millionen. Es gäbe also genug Wohnraum für alle, aber die Verteilung funktioniert nicht. Sie können in der Stadt Buenos Aires, sagen wir, 450 Wohnungen haben, aber es gibt keine Auflagen oder Kosten für die Besitzer, wenn sie unbewohnt sind. Deshalb ist das Immobiliengeschäft eines der profitabelsten in Argentinien. Die Folgen sind dramatisch.

Gervasio Muñoz ist Vorsitzender von Inquilinos Agrupados in Argentinien. Den Mieterbund gibt es seit 2016. Die Organisation war die treibende Kraft hinter dem Mieterschutzgesetz, das Präsident Javier Milei wieder abgeschafft hat.

Gervasio Muñoz ist Vorsitzender von Inquilinos Agrupados in Argentinien. Den Mieterbund gibt es seit 2016. Die Organisation war die treibende Kraft hinter dem Mieterschutzgesetz, das Präsident Javier Milei wieder abgeschafft hat.

(Foto: Roland Peters)

Welche Folgen sehen Sie?

Es findet ein riesiger Geldtransfer statt. Die Mieten sind seit Mileis Amtsantritt mehr gestiegen als die Einkommen. Die offiziellen Zahlen der staatlichen Statistikbehörde INDEC zeigen, dass die Preise seit der Beendigung des Mietgesetzes etwa das Vierfache über der Inflation nach oben geschossen sind. Davor lagen die Erhöhungen darunter. Das nun geltende Recht erlaubt es zudem, sämtliche Ausgaben auf die Mieter abzuwälzen: Viele von ihnen sagen uns, die Besitzer ließen Arbeiten durchführen und legten die komplett auf ihre Nebenkosten um. Sie können sie nicht bezahlen und werden gekündigt. Wir gucken uns mit ihnen ihre Mietverträge an, und sagen den Menschen: Laut Vertrag müssen Sie es bezahlen. Die Leute können das nicht glauben. Aber sie müssen es bezahlen.

Die Mietkosten sind also explodiert und die Bedingungen haben sich verschlechtert?

Die Effekte ordnen sich in zwei Kategorien. Erstens gibt es die Wirtschaftskrise der Haushalte, also diejenigen, die ihre Mieten nicht bezahlen können. Die Menschen essen deshalb nicht, sie verschulden sich. Denn wer seine Wohnung verliert, dessen Leben fällt zusammen. Zweitens gibt es keine legalen Möglichkeiten, sich zu wehren. Der Vertrag ist Gesetz. Nichts anderes.

Ich laufe durch Buenos Aires und sehe allerorten neue Häuser in die Höhe schießen. Ist das also nicht der privatwirtschaftliche Boom, den Milei versprochen hat?

Nein. Argentinien ist allgemein sehr besonders, da Immobilien in Dollar bewertet und verkauft werden. Zugleich hat das Land ein Wirtschaftsmodell des Rohstoffexports und der Überschüsse aus der Landwirtschaft. Wegen der ständigen Krisen und Inflation ist der beste Weg, um seine Profite zu schützen, der Bau. Die Unternehmer bringen ihr Geld in Dollar ins Ausland – oder sie finanzieren mit ihren Pesos neue Bauprojekte, denn damit wird die Arbeit bezahlt. Wohnungen mit Peso bauen und für Dollar verkaufen: Das bringt riesigen Gewinn.

Auch ein riesiges Problem, wenn Käufer nicht mit Peso, sondern US-Dollar bezahlen müssen. Sie werden so praktisch gezwungen, ihre Einkünfte umzutauschen, und treiben damit die Inflation und die Mieten an.

Das hat auch mit der Politik zu tun. Sie sieht die Entwicklung des Immobilienmarktes als zentrale Maßnahme, um Arbeitsplätze zu schaffen. Argentinien ist das Land außerhalb der USA mit dem meisten Bargeld in Dollar und hat die meisten privaten Dollarreserven in anderen Ländern. Wohnungen und Häuser werden mit Dollar gekauft - häufig in bar.

Das öffentliche Argument dafür, das Mietgesetz abzuschaffen, war: Es werde das Angebot auf dem Markt erhöhen und dadurch die Preise drücken. Der Mietzins hat sich aber vervierfacht. Das Angebot ist tatsächlich größer geworden. Die meisten Wohnungen gab es aber schon vorher. Warum waren sie nicht auf dem Markt?

Die Verträge des von uns durchgedrückten Mietgesetzes liefen über drei Jahre und nur eine Mieterhöhung pro Jahr war erlaubt. Das wollte aber angesichts der Inflation kaum ein Besitzer akzeptieren. Es geht da nicht um Mathematik und darum, dass man Geld verliert, wenn man nicht vermietet. Sondern um Druck. Argentinien ist ein chaotisches Land, hier kann alles passieren. Weil im Kongress die Diskussionen über eine Veränderung des Gesetzes schon vor der Präsidentschaftswahl 2023 begonnen hatten, war das ein Signal für Immobilienunternehmen und Besitzer: Sie haben deshalb ihre Wohnungen dem Markt entzogen, weil sie wussten, dass sie den Kampf im Kongress am Ende gewinnen würden.

Argentinien hat eine kleine, wohlhabende Oberschicht. Wie können die anderen gegen Mieterschutz sein?

Wir sind hier in einem historischen Spannungsfeld zwischen einer Oberschicht, die mit Exporten ihr Geld verdient, und Lohnarbeit, die in einer Krise steckt. Wer in Argentinien tatsächlich arbeitet, ist arm. Immobilienbesitz symbolisiert den Traum vom Aufstieg; davon, nur von den Mietzahlungen anderer zu leben. Es gibt Familien, die haben vielleicht zwei, drei Wohnungen, für die sie sich ihr Leben lang abgerackert haben. Die wehren sich gegen jedweden Einfluss auf die Miethöhe. Denn das könnte ja nur der Anfang sein! Sie wissen: Wenn die Krise kommt, sind es Menschen wie sie aus der Mittelschicht, die abrutschen. Es gibt auch die Unternehmer, die 500, 1000 oder 2000 Wohnungen besitzen. Die verbitten sich jede Einmischung in ihr Geschäft. Dieser Immobiliensektor ist eng mit der Oberschicht verknüpft. Für sie dürfen Mietpreise unter keinen Umständen reguliert sein.

Welche Verbindungen der Immobilienwirtschaft sehen Sie mit Mileis Regierung?

Da wäre etwa Eduardo Elsztain, Unternehmer in Immobilien, Landwirtschaft und Bergbau und so etwas wie ein geistlicher Berater des Präsidenten. Wenn man dueño de Argentina ("Besitzer von Argentinien") bei Google eingibt, erscheint sein Name. (Milei wohnte mehrere Monate, vom Wahlkampf bis nach seiner Vereidigung, in einem seiner Hotels, Anm. d. Red.). Dazu kommen unter anderen der Milliardär und Unternehmer Eduardo Eurnekian und Gerardo Werthein, einer der großen Immobilienunternehmer des Landes, Ex-Botschafter in den USA und bis vor ein paar Tagen der Außenminister. Alle drei hatten Milei unterstützt.

Die letzte Version des Mietgesetzes galt seit 2020, also etwa dreieinhalb Jahre lang. Ihre Organisation war die entscheidende Kraft dahinter. Worum ging es Ihnen?

Es ging um klare Regeln und legale Sicherheit. Die Mietvertragsdauer haben wir von zwei auf drei Jahre erhöht und der Zins durfte nur einmal pro Jahr erhöht werden. Aber vor allem ging es auch darum, die Mieten zu senken. Das haben wir geschafft, sie gingen runter. Die zwei Jahrzehnte davor waren die Mietpreise ständig mehr gestiegen als die Löhne. Ich habe in europäischen Medien über das erste Jahr von Mileis Mietpolitik gelesen, es sei beeindruckend gewesen, weil die Mieten gesunken seien. Das stimmt nicht. Vor zehn Jahren zahlten die Menschen etwa 35 bis 40 Prozent ihres Einkommens für Miete. Inzwischen sind es unseren Statistiken zufolge bis zu über 50 Prozent. Der Anteil der Mieten am Warenkorb beträgt jedoch nur 0,02 Prozent.

Inzwischen wohnen viel mehr Menschen zur Miete, landesweit mindestens 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung. Zudem sind sie tendenziell weniger wohlhabend.

Ja. Die Methodik der staatlichen Statistikbehörde ist völlig veraltet. Das beeinflusst auch die offiziellen Inflations- und Armutszahlen. Es gibt also versteckte Inflation und Armut, die von den explodierenden Mieten getrieben wird. Unter Mileis Vorgänger, dem Peronisten Alberto Fernández, traf ich mich mit dem Chef der staatlichen Statistikbehörde und sagte: Auch wenn ihr nicht davon ausgehen könnt, dass alle Menschen Miete bezahlen, veröffentlicht zumindest einen Warenkorb für Wohneigentümer und einen anderen für Mieter. Das wollten sie nicht. Die Begründung: Dies würde die offizielle Armutsrate nach oben treiben.

Das wäre politisch ungünstig gewesen. Ihre Organisation hat jedoch im vergangenen Jahr einen eigenen Mieterwarenkorb veröffentlicht. Darin kamen Sie auf rund 80 Prozent Armutsrate. Der Anteil dürfte angesichts der niedrigeren Inflation geringer geworden sein. Gibt es neuere Angaben?

Die offiziellen Daten für 2025 sind bislang nicht verfügbar, die kommen immer mit viel Verzögerung heraus. Aber im ersten Jahr Milei sank die Mieterquote erstmals seit Jahrzehnten – aber die Hausbesitzerquote ebenfalls. Also gab es eine Marktkonzentration und die Menschen wurden in die Informalität getrieben, da sie sich keine Miete mehr leisten konnten. Sie zogen unter anderem in Armenviertel.

Was sind die größten Probleme, mit denen Mieter zu Ihnen kommen?

Ich weiß nicht, wie ich die Miete zahlen soll. Ich weiß nicht, wo ich hinsoll. Heute Nacht hat mir eine alleinstehende Frau mit Kindern geschrieben. Der Besitzer gibt ihr drei Tage Zeit, um die Wohnung zu verlassen. Alternativ räumt er ihr zwei Wochen ein, um die Miete zu bezahlen, aber mit täglichen Zinsen. An so einem Fall wird deutlich, dass die Vereinbarung der Mietparteien im Alltag über dem Gesetz steht. Das ist auch das Gesellschaftsmodell, das diese Regierung vertritt.

Ein gewagtes Projekt, das auch in Deutschland beobachtet wird. Manch ein Politiker forderte, man müsse "mehr Milei wagen".

Wir sind schon viel weiter. Wir hatten uns mit dem Mietgesetz gegen den Markt, die Medien und große Teile der Politik durchgesetzt. Das Ergebnis war Chaos. Besitzer nahmen die Wohnungen vom Markt oder fingen an, die Mieten in Dollar zu kassieren, und die Leute sagten uns: Das Gesetz wird nicht eingehalten und die Situation ist viel schlimmer als vorher. Deshalb haben wir immer noch eine Anti-Staat-Stimmung. Die Schwierigkeiten, die Regelungen auch durchzusetzen, hat viel Vertrauen gekostet. Auch das allgemeine Vertrauen in die Fähigkeit des Staates, die Lebensbedingungen der Menschen verbessern zu können.

Ihr gescheitertes Mietgesetz symbolisiert für Sie das Scheitern des Staates?

Jemand wie Milei ist die Folge, wenn der Staat nicht erfüllen kann, was er verspricht. Dann wird der Staat als etwas gesehen, was das Leben ruiniert und verhindert, dass Du mit Deiner Leistung etwas erreichen kannst. Unter Milei hören wir von den Mietern jedoch, dass es aktuell noch viel schlimmer als vorher ist. Das ist der gesellschaftliche Prozess, in dem wir uns derzeit befinden. Wir meinen, dass ein teilweise ineffizienter Staat besser ist, wenn er zumindest einen gewissen gesetzlichen Schutz garantiert. In den Medien findet das kaum statt, dafür hat sich die Debatte zu sehr verschoben.

Am Sonntag gibt es Kongresswahlen, die auch ein Stimmungstest für Milei sein werden. Auf welches zukünftige Szenario bereitet sich Ihre Organisation vor?

Genau das Gegenteil davon, was derzeit gilt. Das können Zehnjahresverträge sein, oder dass sich der Mietpreis an dem Steuerwert der Wohnung orientiert, nicht am Marktwert. Das würde die Besitzer auch dazu bringen, höhere Steuern zu zahlen. Wir wollen also die grundlegende Logik verändern. Und wir versuchen, uns zu einer Art Gewerkschaft zu entwickeln, die ihre Interessen bei der Regierung permanent vertreten darf. So wie andere einflussreiche Gewerkschaften.

Das klingt sehr ambitioniert in einem Land, wo ein Libertärer regiert.

Wenn diese Regierung am Ende ist, in zwei Jahren oder weniger, werden wir Maximalforderungen stellen. Ja, es klingt ein wenig verrückt, weil wir damit entgegengesetzt der derzeitigen Einbahnstraße fahren. Aber wir haben keine Zweifel daran, dass diese Regierung scheitern wird. Ich gehe davon aus, dass wir wegen all der neuen Schulden in eine tiefgreifende gesellschaftliche Krise rutschen. Entweder wird diese Krise, so wie in anderen Ländern, auch die Institutionen zersetzen und der Wirtschaft weiterhin ihre Geschäfte garantieren. Oder es wird eine Gegenbewegung geben. Also eine neue Regierung für die breite Bevölkerung, die grundlegende Veränderungen umsetzt.

Und die Vermieter?

Man kann auf der Straße atmen, was passieren wird. Die Besitzer von Immobilien sind keine Idioten. Sie wissen, dass sie in kürzester Zeit so viel Geld wie möglich verdienen müssen.

Das Gespräch mit Gervasio Muñoz führte Roland Peters in Buenos Aires

Quelle: ntv.de

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