Mehr Flexibilität am Wahlsonntag Forscher erwarten Briefwahl-Rekord
20.09.2017, 16:16 Uhr
Bei der Bundestagswahl 2013 nutzte fast jeder Vierte die Möglichkeit der Briefwahl.
(Foto: dpa)
Pflichttermin im Wahllokal? Viele Deutsche wollen das nicht mehr und greifen stattdessen zur Alternative. Die Briefwahl dürfte bei der kommenden Bundestagswahl einen Rekord verzeichnen - für den Staat hat die höhere Flexibilität der Bürger ihren Preis.
Urlaub, Arbeit, Fußballtraining, Familienausflug, mieses Wetter oder schlicht Vergesslichkeit: Es gibt viele Gründe, warum Menschen am Wahlsonntag nicht im Wahllokal erscheinen. Eine Alternative ist die Briefwahl vorab - zumindest für jene, die nicht aus Protest auf die Stimmabgabe verzichten. Die Variante per Post wird in Deutschland immer beliebter. Der Trend ist mit Schwankungen schon seit 1957 zu beobachten, als die Briefwahl zugelassen wurde. In diesem Jahr dürfte sie einen Rekord erreichen.
Die Zahlen: 1957 lag der Anteil der Briefwähler bei der Bundestagswahl noch bei 4,9 Prozent, 30 Jahre später bei 11,1 Prozent. 2009 machte dann schon gut jeder Fünfte (21,4 Prozent) sein Kreuz vorab per Brief. 2013 nutzte fast jeder Vierte diese Option (24,3 Prozent). Fachleute und viele Kommunen gehen davon aus, dass es diesmal noch mehr werden. Der Briefwähler-Anteil steuert auf einen Rekord zu: Fast alle Bundesländer melden einen Anstieg der Nachfrage nach Briefwahl-Unterlagen - zumindest in den größten Städten. Das ergab eine deutschlandweite dpa-Umfrage.
Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen melden viele Städte eine so hohe Nachfrage an Briefwahl-Unterlagen wie nie zuvor. Am stärksten zeigt sich der Trend in Aachen, wo nach Angaben der Kommune schon fast jeder Dritte sein Kreuz gemacht hat. Die genauen Zahlen stehen aber erst am 12. Oktober mit dem endgültigen Wahlergebnis fest.
Die Gründe: Die Menschen würden bequemer, flexibler und mobiler, meint der Sprecher des Bundeswahlleiters, Klaus Pötzsch. Manche wollten sich den Sonntag für Unternehmungen frei halten, andere müssten arbeiten. "Ende September sind viele auch noch im Urlaub." Der Wahlforscher Rüdiger Schmitt-Beck sieht in der Entwicklung vor allem "einen Ausdruck der Individualisierung der Gesellschaft". Die Menschen wollten flexibel bleiben und sich nicht einschränken. Die Briefwahl verschaffe den Menschen einen Autonomie-Spielraum, sagt der Wissenschaftler von der Universität Mannheim. Der Anstieg bei dieser Bundestagswahl könne auch damit zu tun haben, dass die Parteien offensiv um Briefwähler geworben hätten.
Die Briefwahl-Kampagnen: Auf ihren Webseiten erklärten die Parteien in den vergangenen Wochen detailliert das Prozedere für die Briefwahl. CDU und SPD zum Beispiel machten außerdem eigens Werbespots, um Menschen zur Wahl per Post zu animieren. Die CDU widmete dem Thema auch ein Plakatmotiv: Ein Rentner im Garten, von seinen Indianer spielenden Enkeln an einen Baum gefesselt. Dazu der Spruch: "Falls am Wahltag etwas dazwischenkommt."
Die typischen Briefwähler: Briefwähler sind älter, leben eher in der Stadt als auf dem Land, und sie sind meist höher gebildet - so fasst Wahlforscher Schmitt-Beck eine Analyse der Bundestagswahl von 2013 zusammen. Einen deutlichen Unterschied gibt es auch zwischen Ost und West: In den alten Bundesländern wählten 2013 deutlich mehr Menschen per Brief als in den neuen. Pötzsch sagt: "Meistens wählen die per Briefwahl, die genau wissen, was sie wählen wollen."
Die Profiteure: Der Zweitstimmenanteil der Briefwähler von CDU/CSU, FDP und Grünen lag 2013 leicht über dem der Urnenwähler dieser Parteien. Bei SPD und Linken war es umgekehrt. Der Wahlforscher Schmitt-Beck sagt, eine aktuelle Umfrage seines Teams deute darauf hin, dass die CDU von der Briefwahl profitiere. CDU-Wähler seien häufig aber auch früher entschlossen als SPD-Wähler.
Die Wahlbeteiligung: Nach Einschätzung von Schmitt-Beck und dem Mainzer Wahlforscher Thorsten Faas wird sie voraussichtlich höher ausfallen als 2013. Dafür spreche nicht zuletzt, dass mehr Unterlagen zur Briefwahl ausgegeben wurden. "Wer sich schon die Mühe macht, die Unterlagen zu beantragen, wird in der Regel auch tatsächlich wählen", sagt Faas. Schmitt-Beck meint: "Wer die Briefwahl-Unterlagen anfordert, zeigt schon mal, dass ihm die Wahl etwas bedeutet."
Die Kosten: Insgesamt schätzt das Bundesinnenministerium die Ausgaben des Bundes für die Bundestagswahl in diesem Jahr auf rund 92 Millionen Euro. Ein Großteil wird erstattet an Länder und Kommunen. 2013 lagen die Kosten insgesamt bei 77 Millionen Euro. Die Schätzung für dieses Jahr fällt laut Innenressort höher aus, weil die ehrenamtlichen Wahlhelfer mehr "Erfrischungsgeld" bekommen und höhere Porto-Kosten anfallen. Die tatsächlichen Kosten für dieses Jahr stünden aber erst nach der Abrechnung 2018 fest.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund erwartet einen zusätzlichen Kostenanstieg durch den höheren Briefwähleranteil. Briefwahl-Unterlagen würden in jedem Wahlbezirk gesondert sortiert und ausgezählt, erklärt der Verband. Durch das Plus in diesem Jahr seien dafür zusätzlich zu den ohnehin eingeplanten 650.000 Wahlhelfern wohl bis zu 40.000 weitere nötig. Der Verband rechnet mit etwa drei Millionen Euro Extrakosten durch das Briefwähler-Plus.
Quelle: ntv.de, Ira Schaible und Christiane Jacke, dpa