Partei steht hinter Baerbock Grüne können großen Asyl-Eklat abwenden


Nach tagelangem Streit auf offener Bühne und Debatten im Hintergrund gerät der kleine Parteitag der Grünen zum Showdown über Deutschlands Zustimmung zur Asylreform. Nach zähem Ringen steht ein Positionspapier, das die Partei beruhigt - aber tiefe Gräben nicht zuzuschütten vermag.
Aufatmen in Bad Vilbel, jenem kleinen Ort am Rande Frankfurt am Mains, wo am Wochenende der kleine Parteitag der Grünen zusammenkommt. Der von vielen Beobachtern erwartete Krach beim sogenannten Länderrat ist ausgeblieben. Die Partei kann sich am späten Nachmittag auf ein Positionspapier verständigen, das ein weiteres Auseinanderdriften der Grünen in der Asylpolitik vorerst verhindert. Hierfür brauchte es aber auch einen Kraftakt der gesamten Parteiführung und eine starke Rede von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, die ihr tatsächlich gelang.
Stein des Anstoßes war die Zustimmung der deutschen Bundesregierung zum Kompromiss der EU-Regierungen zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) am Donnerstag vor neun Tagen. Der Kompromiss sieht unter anderem die Einrichtung von Zentren an den EU-Außengrenzen vor, in denen Menschen in Schnellverfahren einer Asylprüfung unterzogen werden sollen, darunter auch Familien mit Kindern. Dass Deutschland dem zustimmt, während eine verpflichtende Umverteilung von Geflüchteten auf alle EU-Staaten ausgeblieben ist, empört viele Grüne. Dass natürliche Bündnispartner der Grünen wie Flüchtlingsverbände auf die Barrikaden gehen, verunsichert Teile der Partei zusätzlich.
In einer mit ruhiger, aber entschiedener Stimme vorgetragenen Rede wirbt Baerbock um Unterstützung. "Auch mich hat das zerrissen", nimmt sie die Zuhörerinnen und Zuhörer mit in ihren persönlichen Entscheidungsprozess. "Ich habe gedacht, das kann ich meiner Partei nicht zumuten. Das kann ich uns nicht zumuten", sagt Baerbock. Es habe bei den EU-Staaten aber schlicht keine Mehrheiten für einen humaneren Kurs gegeben, nur Befürworter eines noch restriktiveren Kurses.
49:51
Ausführlich erläutert die Ministerin ihre Abwägung: den Vergleich zum Status quo an Europas Außengrenzen, die Aussicht, dass perspektivisch bis zu 120.000 Geflüchtete pro Jahr innerhalb der EU-Staaten umverteilt werden könnten, die Notwendigkeit, die Europäische Union in der alle Mitgliedstaaten spaltenden Asylfrage zusammenzuführen. "Meine Waage, und die habt ihr dann alle gehört, war 49 zu 51", sagt Baerbock, die auch dem Parteirat, eine Art erweitertes Vorstandsgremium, angehört.
"Ich möchte nicht dafür werben, dass ihr sagt, das war alles super - im Gegenteil", sagt Baerbock. Sie war noch als Abgeordnete selbst im Flüchtlingslager Moria und auch in ihrem Wohnort Potsdam in der Flüchtlingshilfe engagiert. "Diese Verordnung geht für uns eigentlich gar nicht für uns als Grüne", das habe sie auch in den Verhandlungen so gesagt, erklärt Baerbock. In ihrem Amt sei sie aber eben nicht nur Grünen-Politikerin, sondern Deutschlands Außenministerin. Dennoch, so viel wird deutlich, versteht sie die Bauchschmerzen vieler Parteikolleginnen.
Das Votum der Partei in dieser Frage ist nicht nur eines über die Asylpolitik. Es geht auch darum, ob der in der Partei so beliebten Baerbock weiter uneingeschränktes Vertrauen entgegengebracht wird. "Wenn wir etwas erreichen wollen, machen wir das nicht dadurch dass wir unsere Leute, die dort für uns verhandeln schwach machen. Wir machen unsere Leute stark", mahnt im Verlauf der Debatte Mathias Wagner. Der hessische Fraktionschef hat einen Landtagswahlkampf vor der Brust, an dessen Ende Tarek Al-Wazir Ministerpräsident werden soll. Rückenwind aus Berlin gab es zuletzt nicht für die Hessen.
"Es sind Menschen"
Die vielleicht eindrücklichste Gegenrede an diesem Tag hält die in der Partei ebenfalls geschätzte Aminata Touré, Kind malischer Einwanderer und heute Landesministerin für Soziales, Familien und Integration in Schleswig-Holstein. "Es ist für mich nicht vertretbar, dass wir unser Okay zu Haftzentren gegeben haben", sagt Touré. Es helfe auch nichts, wenn gesagt werde, in den Anstalten sollten möglichst keine Kinder und auch nur Menschen mit geringer Bleibeperspektive in der EU landen. "Es sind Menschen. Es sind Menschen wie meine Familie damals", ruft Touré mit zitternder Stimme.
Touré wird ebenso lang anhaltender, stehender Applaus zuteil wie zuvor Baerbock. Es ist das erhoffte doppelte Signal: Die Pragmatiker verstehen die Zweifel der Kritiker aus dem vornehmlich linken Flügel. Die Außenministerin wird des Rückhalts ihrer Partei versichert.
Gelingen kann dieser aus Sicht der Parteiführung wichtige Erfolg, weil es in den entscheidenden zum Schulterschluss zwischen Unterstützern Baerbocks und den übrigen Bundesministern auf der einen Seite und dem Lager der Europapolitiker um Erik Marquardt kommt. Der Europaabgeordnete setzt sich seit Jahren für eine humanitärere Asylpolitik ein und war der parteiinterne Wortführer unter den Kritikern des Asylkompromisses. Zahlreiche Änderungsanträge aus diesem Lager zum Positionspapier des Vorstands beim Thema Asyl und Menschenrechte gehen in letzter Minute im Antrag des Bundesvorstands auf. Die Grünen-Spitze kann sich angesichts dieser Zugeständnisse, die Baerbock zu mehr Rückkopplung mit ihrer Partei verpflichten, einer Mehrheit für ihren Textvorschlag nicht sicher gewesen sein.
"Ich bitte euch um Mut und Konsequenz"
Eine der salomonischen Formeln, auf die man sich im Laufe des Nachmittags hinter den Kulissen verständigen kann, lautet: "Der Ratsbeschluss wäre ohne unseren Einsatz, gerade von grünen Regierungsmitgliedern, ein schlechterer gewesen. Doch er enthält auch substanzielle Verschärfungen, die wir aus asylpolitischer Sicht falsch finden." Die Grüne Jugend hatte noch in einem Änderungsantrag gefordert, dass die Partei feststellt, Deutschlands Zustimmung zum Ratsbeschluss sei "falsch" gewesen. Schließlich gibt die Parteijugend dem Druck der Mehrheit nach, die Außenministerin nicht derart öffentlich zu desavouieren.
Am späten Nachmittag kommt es nur noch zu einer Kampfabstimmung: Sollten die Grünen-Minister verpflichtet werden, einer Einigung des Asylkompromisses zwischen EU-Rat, Kommission und Parlament (Trilog-Verfahren) nur zustimmen zu dürfen, wenn darin etwa alle Minderjährigen von Haftzentren ausgenommen werden? So fordert es die Grüne Jugend. "Lasst uns jetzt auch den Mut haben für klare Ziele für das Trilog-Verfahren", fordert Timon Dzienus, Co-Vorsitzender der Grünen Jugend, vor den mehr als 80 Delegierten. "Ich bitte euch um Mut und Konsequenz."
Bewertung vertagt
Doch am Ende gibt es eine klare Mehrheit für die angepasste Position der Parteispitze: Darin werden Europafraktion, Bundestagsfraktion, Bundespartei und Regierungsmitglieder aufgefordert, für die grünen Vorstellungen zu kämpfen. "Auch das Ergebnis werden wir gemeinsam bewerten." Wie sich die Partei am Ende zur Reform der EU-Asylpolitik positioniert, mache sie davon abhängig, "ob unter dem Strich Verbesserungen in der Europäischen Asylpolitik und auch für Europa stehen". Mit dieser Formel ist auch Streit innerhalb der Ampel-Koalition abgewendet: Eine Einigung zwischen den EU-Staaten, dem EU-Parlament und der Kommission noch während der laufenden Legislaturperiode ist sehr unwahrscheinlich. Ob die Grünen am Tag X überhaupt noch mitregieren, weiß heute niemand.
Dennoch ist Knatsch bei den Grünen nicht ohne Konsequenzen: Die Partei ist, untermauert durch das am Ende einstimmig angenommene Positionspapier, entschlossener denn je, die Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsstaaten nicht mitzutragen. Bundeskanzler Olaf Scholz, weiter Teile seiner SPD und auch die FDP wollen etwa Marokko und Algerien hinzufügen. Die Grünen-Fraktion lehnt das ab. Damit hat die Ampel ein Streitthema mehr auf dieser ohnehin schon langen Liste.
Große Erleichterung
Am Ende des Länderrates haben die Grünen wie schon beim großen Parteitag im vergangenen Herbst wieder einmal schwierige Kompromisse zur Regierungsführung mitgetragen. Das erleichterte Strahlen der Co-Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour im Anschluss spricht Bände. Dies gilt allerdings auch für die sichtbare Enttäuschung derjenigen, die den Asylkompromiss entschieden ablehnen.
Die Niederlagen verschiedener Überzeugungstäterinnen in der Partei stapeln sich, je länger die Regierungsbeteiligung andauert. Möglich also, dass der für einige Tage aufgeploppte Konflikt voller persönlicher Vorwürfe hinter den Kulissen und auch offener Kritik, nur vertagt ist. Aufschlüsse könnte der Parteitag im November in Karlsruhe geben, wenn sich unter anderem Lang und Nouripour voraussichtlich erneut für den Vorsitz bewerben.
Quelle: ntv.de