"Champagner der Energiewende" Habeck dreht den Wasserstoff-Hahn auf
26.07.2023, 15:24 Uhr Artikel anhören
Habeck vertrat am Vormittag Bundeskanzler Scholz als Sitzungsleiter im Kabinett.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Bundesregierung will fossilen Energieträgern den Garaus machen, doch das Land braucht künftig mehr Strom denn je - etwa für Autos, LKWs und Wärmeversorgung. Das Zaubermittel: grüner Wasserstoff. Der zuständige Minister Habeck erhöht die Ausbauziele, doch es gibt Kritik, auch aus der Umweltbewegung.
Für Robert Habeck geht ein denkbar schwieriges Halbjahr als Bundesminister für Klimaschutz und Wirtschaft zu Ende. Der Streit ums Heizungsgesetz, die Trauzeugen-Affäre seines daraufhin gefeuerten Staatssekretärs Patrick Graichen und die Rezession der deutschen Wirtschaft. Sein am Wochenende beginnender Urlaub dürfte aus Sicht des Grünen-Politikers keinen Tag zu früh kommen. Umso wichtiger, dass der Vizekanzler mit einem guten Gefühl das Sakko im Schrank parkt. Dieser Mittwoch wartet mit gleich drei Wohlfühlterminen auf: Am Vormittag hat die Bundesregierung die Aktualisierung der Nationalen Wasserstoffstrategie beschlossen. Habeck leitete in Abwesenheit des urlaubenden Kanzlers die Kabinettssitzung -"in sommerlich-gelöster Atmosphäre", wie ein Sprecher berichtete. Am späten Nachmittag darf Habeck bei zwei Firmenbesuchen demonstrieren, in welch grün-goldene Zukunft er das Land auch mithilfe des Wasserstoffs führen will.
Grauer Wasserstoff
Wie gut oder schlecht Wasserstoff für das Klima ist, hängt maßgeblich von der Art und Weise ab, wie er produziert wird. Dabei kann nämlich kaum CO2 anfallen oder eben vergleichsweise viel - wie beim grauen Wasserstoff. Der wird vorrangig aus Erdgas und Kohle gewonnen. Dabei wird das Erdgas unter Hitze in Wasserstoff und Kohlendioxid umgewandelt. Es entstehen rund zehn Tonnen CO2 pro Tonne Wasserstoff.
Blauer Wasserstoff
Blauer Wasserstoff wird ebenfalls aus fossilen Energieträgern - meistens Erdgas - hergestellt. Während das anfallende Kohlendioxid beim grauen Wasserstoff allerdings in die Atmosphäre entweicht, wird es bei der blauen Methode aufgefangen, unter die Erde gepresst und gespeichert.
Türkiser Wasserstoff
"Türkiser Wasserstoff ist Wasserstoff, der über die thermische Spaltung von Methan hergestellt wurde - die sogenannte Methanpyrolyse", erklärt der TÜV-Nord. Dabei entsteht anstelle von CO2 ein fester Kohlenstoff.
Oranger Wasserstoff
Der orange Wasserstoff wird aus Biomasse, wie zum Beispiel Siedlungsabfall, oder unter Verwendung von Strom aus Müllverbrennungsanlagen oder Biogasanlagen hergestellt.
Grüner Wasserstoff
Grüner Wasserstoff wird aus Ökostrom und damit CO2-neutral hergestellt. Die Elektrolyse teilt dabei das Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff. Das Produkt kann dann ins Netz eingespeist oder direkt vor Ort genutzt werden.
Pinker Wasserstoff
Pinker oder auch roter Wasserstoff wird aus Kernenergie gewonnen. CO2 entsteht dabei zwar nicht, dafür aber radioaktiver Müll.
In Oberhausen will der Stahlkonzern Thyssenkrupp Steel Europe das größte europäische Hüttenwerk schrittweise auf Wasserstoff umrüsten, statt Kohle zu verbrennen. Die EU hat gerade den Weg freigemacht, dass Bund und Länder das Projekt mit zwei Milliarden Euro fördern dürfen. Anschließend besichtigt Habeck das Unternehmen Air Liquide, das Großelektrolyseure baut. Das sind jene Anlagen, die mit Strom Wassermoleküle in Sauerstoff und Wasserstoff zerlegen. So wird Energie in Form von Wasserstoff transport- und brennfähig. Wasserstoff gilt wegen dieser Eigenschaften als Schlüssel der Energiewende.
Heimisches Kapazitätsziel verdoppelt
Es ist die zentrale Erzählung der Grünen, dass sich Deutschlands energieintensive Industrie so dekarbonisieren lasse - und Deutschland langfristig CO2-neutral, günstig und planbar alles Mögliche produzieren und in die Welt exportieren könne. Doch weil Wasserstoff noch knapp ist, erst recht mithilfe von grünem Strom gewonnener Wasserstoff, ist er eben auch teuer. Habeck spricht gerne vom "Champagner der Energiewende" - ein rares Gut, das aus Sicht des Ministers vorerst der Industrie vorbehalten bleiben sollte und nicht zum Fahren und Wärmen verheizt werden sollte, wo es bekanntlich auch elektrische Lösungen gibt.
Die Fortschreibung der Wasserstoffstrategie war bereits Teil des Koalitionsvertrags. FDP und SPD ist die Zukunft des Industriestandorts nicht minder wichtig, die Technologie-affine FDP setzt zudem auf mehr Wettbewerb zwischen den verschiedenen Formen Erneuerbarer Energien. Im Zentrum der Aktualisierung steht das Ziel von 10 Gigawatt Erzeugungsmöglichkeiten in Deutschland bis 2030 - bisher waren 5 Gigawatt vorgesehen. Darüber hinaus soll Wasserstoff importiert werden. Zur Einordnung: Eine Terawattstunde Wasserstoff wiegt etwa 30.000 Tonnen. Allein für das künftig mit Wasserstoff betriebene Stahlwerk, das Habeck heute besucht, veranschlagt Thyssenkrupp ab 2029 einen Jahresverbrauch von 143.000 Tonnen Wasserstoff.
Import- und Netzstrategie folgen bald
Die Bundesregierung fördert aktiv den Hochlauf der Produktion auch in anderen Ländern mit günstigeren Bedingungen für die Energie aus Wind, Kraft und Wasser. Für 2030 geht die Bundesregierung für Deutschland von einem Wasserstoffbedarf von 95 bis 130 Terawattstunden aus, inklusive sogenannter Wasserstoffderivate wie Ammoniak, Methanol oder synthetischer Kraftstoffe, die zum Beispiel für den Transport per Schiff genutzt werden. Davon werden nach Einschätzung der Regierung 50 bis 70 Prozent durch Importe aus dem Ausland gedeckt werden, bei steigender Tendenz in den Jahren danach. Dabei will die Regierung auf soziale und ökologische Standards im Herkunftsland achten.
Dem Papier zufolge dürfte bis 2030 ein Großteil mit dem Schiff kommen, danach sollen Pipelines eine immer wichtigere Rolle spielen. Die Terminals zum Import von Flüssiggas (LNG), die derzeit an den deutschen Küsten entstehen, sollen später für Wasserstoff genutzt werden. Noch in diesem Jahr soll eine Importstrategie folgen. Ebenfalls im laufenden Jahr sollen die Fernleitungsnetzbetreiber Pläne für ein deutsches Wasserstoff-Kernnetz vorlegen, die durch die Bundesnetzagentur geprüft und bis 2032 umgesetzt werden.
Vieles wichtig, Heizen eher nicht
Bis 2030 will die Bundesregierung Deutschland zum "Leitanbieter für Wasserstofftechnologien" formen. Habeck hatte zuletzt wiederholt deutsche Elektrolyseur-Hersteller besucht, ob im Februar in Brasilien oder nun in Oberhausen. "Meine persönliche Einschätzung ist, dass alles viel schneller und damit auch viel schneller günstiger werden wird, als wir uns das bisher vorstellen", sagte Habeck bei der Vorstellung des Strategiepapiers. Der ebenfalls anwesende Verkehrsminister Volker Wissing sagte, für den Verkehrssektor spiele Wasserstoff eine enorme Rolle. Ohne ihn sei klimaneutrale Mobilität und Logistik nicht denkbar. "Wir brauchen Wasserstoff, um insbesondere den Güterverkehr, aber auch den Individualverkehr klimaneutral zu stellen", so der FDP-Politiker.
Bis 2030 dürften Wasserstoff und seine Derivate der Strategie zufolge vor allem in der Industrie zum Einsatz kommen, vorwiegend in der Chemie- und Stahlbranche, sowie im Verkehr in Brennstoffzellen und als erneuerbarer Kraftstoff. Im Stromsektor soll Wasserstoff helfen, die schwankende Erzeugung aus erneuerbaren Energien auszugleichen. Pikant: Eine "breite Anwendung" im Wärmebereich sei bis dahin nicht zu erwarten, heißt es in dem Papier. Die Öffnung für den Wasserstoff war ein Kernthema des Ampelstreits über das Heizungsgesetz. Vor allem die FDP hatte sich hier für die Gasnetzbetreiber starkgemacht.
Wie gut ist der blaue?
Verärgerung gibt es aber bei der Farbenfrage: Bislang war eine Förderung auf den grünen Wasserstoff beschränkt, bei dem nur erneuerbare Energien zur Gewinnung des Wasserstoffes zum Einsatz kommen. Bis es genügend grünen Wasserstoff gibt, sollen aber auch andere Wasserstofffarben genutzt werden, "insbesondere kohlenstoffarmer Wasserstoff aus Abfällen oder Erdgas", wie es in der Strategie heißt. Beim blauen Wasserstoff wird etwa Erdgas genutzt, das CO2 aber aufgefangen und entsorgt.
Greenpeace kritisiert, dass der blaue Wasserstoff "unter anderem mit hohen Treibhausgas-Emissionen aus der Förderung, Verarbeitung und dem Transport des Erdgases belastet" ist. Und: "Sollte importiert werden, müssen strenge ökologische und soziale Kriterien angelegt werden", forderte der geschäftsführende Vorstand von Greenpeace Deutschland, Martin Kaiser, in den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. "Unser Energiehunger darf nicht dazu führen, dass wir im Globalen Süden weiter Land- und Wasserressourcen ausbeuten und neokoloniale Strukturen fortschreiben."
Die Bundesregierung verteidigt ihre Strategie. Nicht-grüne Wasserstoffe würden vor allem in der Hochlaufphase gebraucht, bis weltweit genügend grüner Wasserstoff zur Verfügung steht. "Grüner Wasserstoff ist ein sehr wertvoller Baustein der klimaneutralen Zukunft", erklärte der SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch. "Darum müssen wir international darauf achten, dass auch wirklich nur Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien eine Zukunft hat und er zugleich sorgfältig eingesetzt wird."
Der aus 25 Experten bestehende, die Bundesregierung beratende Nationale Wasserstoffrat begrüßt die neue Strategie. Die Transformation hin zu klimaneutraler Produktion hänge von der ausreichenden Verfügbarkeit von Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Konditionen ab, sagte die Vorsitzende des Gremiums, Katherina Reiche. "Unternehmen investieren nur dann, wenn sie langfristige Planungssicherheit haben. Wir müssen daher bereits jetzt über das Jahr 2030 hinausblicken."
Quelle: ntv.de, mit dpa und AFP