Baerbock im Klischee-Kiez Im Prenzlauer Berg haben Grüne ein Heimspiel
08.09.2021, 16:32 Uhr
Annalena Baerbock gibt sich bei dem Auftritt nahbar, erzählt von ihren Erfahrungen als Mutter.
(Foto: picture alliance/dpa)
Es existieren Dutzende Klischees rund um den Prenzlauer Berg in Berlin - und tatsächlich steht der Stadtteil wohl wie kein anderer in Deutschland für das grüne Lebensgefühl. Bei einem Ortstermin tun die Grünen wenig, um gegen die Vorurteile von der grünen Bildungsbürger-Partei anzukämpfen.
Ihr großer Auftritt ist für 17.00 Uhr vorgesehen, doch Annalena Baerbock steht im Stau. Fast wirkt es geplant, so gut passt die Verspätung der Kanzlerkandidatin wegen des Berliner Verkehrschaos zum Programm, das die Grünen am Dienstagnachmittag im Prenzlauer Berg bewerben wollen. "Wir müssen den öffentlichen Raum neu verteilen", fordert Bettina Jarasch, Kandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin in Berlin, und wünscht sich während ihrer Rede "autofreie Kieze". Dazu wolle sie die Mobilität vor allem auch am Stadtrand verbessern. Warum kommt Annalena Baerbock dann eigentlich mit eigenem Bus in den gut angebundenen Bezirk Pankow, zu dem auch der Ortsteil Prenzlauer Berg gehört? Vermutlich aus Sicherheitsgründen. Immerhin: Der grüne Wahlkampfbus ist CO2-neutral, wie sich einem Sticker auf seiner Front entnehmen lässt.
Die Partei hat sich prominente Unterstützung eingeladen, um ihre Botschaft zu vermitteln: Henning May, Frontmann der Erfolgsband "Annenmaykantereit", eröffnet die Veranstaltung auf dem Minna-Flake-Platz mit einem eigens dafür geschriebenen Song. Auch er kommt nicht um das Buzzword "Richtungswechsel" herum. "Zum Glück gibt es eine Kandidatin, die für etwas Neues steht - für einen sogenannten Richtungswechsel. Der ist schon so lang bestellt, und wurde nie abgeholt", singt der Kölner. Schauspielerin Nora Tschirner ist ebenfalls da. Die bekennende Baerbock-Unterstützerin soll beim "Paneltalk" mit Annalena Baerbock, Bettina Jarasch und Cordelia Koch, Bürgermeisterkandidatin für Pankow, aus ihrer Perspektive als Pankowerin und Mutter erzählen.
Als endlich Baerbock eintrifft, gibt es großen Applaus. Mehrere Hundert Leute warten darauf, dass "Annalena" zu und mit ihnen spricht. Und auf der rein weiblich besetzten Bühne kommt Baerbock dann auch richtig in Fahrt. Es gehe um die Frage "Aufbruch oder weiter so?", sagt Baerbock, und spricht von Klimagerechtigkeit über faire Arbeitsbedingungen in der Pflege bis hin zur Bildungspolitik, die als Hauptprogrammpunkt angekündigt war. Baerbock fordert mehr Einmischung des Bundes, denn Bildungspolitik sei auch Sozialpolitik. Als Mutter sei es ihr besonders wichtig, dass Kitas und Schulen zu den "schönsten Orten im Land werden".
Kreativere Schulen für den Prenzlauer Berg
Mutterdasein, Familie, Kinder: Diese Motive ziehen sich durch die ganze Veranstaltung. Es ist eindeutig, welche Zielgruppe hier angesprochen werden soll. Bevor Baerbock mit ihrer Begrüßungsrede startet, lobt sie, wie viele Kinder vor Ort anwesend sind. Und auch Stargast Nora Tschirner, die ihr Privatleben sonst streng unter Verschluss hält, berichtet von ihren eigenen Erfahrungen als Mutter eines Schulkindes. Die Schule müsse Kunst und Kreativität fördern und dürfe die Lust am Lernen nicht kaputtmachen, sagt sie. Für diesen Satz gibt es einen langen Applaus. Bei dem sehr homogenen Publikum aus vorrangig weißen, mittelständischen Familien und jungen Menschen trifft das Thema anscheinend auf offene Ohren.
Die Grünen sehen sich gern als diverse Partei, haben erst kürzlich ein Vielfältigkeitsstatut beschlossen. In der Sozialpolitik setzt die Partei in ihrem Wahlprogramm auf mehr Teilhabe und Chancengerechtigkeit. Beim Termin in Prenzlauer Berg spiegelt sich dieses Selbstbild allerdings nicht unbedingt wider - weder auf, noch vor der Bühne. Es wird wenig getan, um dem Klischee von der grünen Bildungsbürger-Partei entgegenzutreten. Themen wie Grundsicherung für Kinder und ungleiche Bildungschancen werden zwar kurz angerissen - wirklich betroffen sind von diesen Problemen wohl nur die wenigsten aus dem Publikum hier im klischeebehafteten Prenzlauer Berg. Stattdessen dreht sich der Termin hauptsächlich um kreativere und freiere Schulkonzepte, ein grüneres Stadtbild und mehr Demokratie im Bildungswesen.
Stargast Nora Tschirner zeigt Kante gegen Impfgegner
Nur ein paar Mal wird die gute Stimmung getrübt. "Impf' dich ins Knie, Nora", ruft ein Störenfried mitten in einen Wortbeitrag der Schauspielerin. "Soziale Kompetenzen muss man fördern, haben wir gerade gelernt. Ich wünsche Ihnen im Nachhinein auch eine ganz tolle Schule", entgegnet sie schlagfertig. Bei der zweiten Störung durch mehrere Maskenverweigerer bleibt sie allerdings nicht mehr so ruhig. Mit bester Berliner Schnauze pöbelt sie zurück: "Jetzt seid doch mal ruhig. Hier fragt eine Schülerin eine Frage und ihr könnt euch mit euren erwachsenen Köppen nicht mal eine Sekunde zusammenreißen? Was ist denn da los?"
Die Zwischenrufe kosten wertvolle Minuten, Annalena Baerbock muss pünktlich nach der Veranstaltung weiter zum nächsten Auftritt nach Halle. Am Ende bleibt deswegen auch nur Zeit für drei Fragen der Schülerinnen und Schüler, die versprochene große Fragerunde bleibt aus.
Zwei Jugendliche wollen nach Ende der Veranstaltung trotzdem noch ein Andenken mit Baerbock ergattern. "Komm, lass noch ein Selfie machen", meint der eine zum anderen. Doch daraus wird nichts: Nach einem kurzen Gespräch mit Demonstrierenden am Rande der Bühne huscht die Kanzlerkandidatin, abgeschottet von ihren Security-Leuten, zur hinteren Tür ihres Busses. Die Pankower und Pankowerinnen wirken trotzdem zufrieden. Ihre Probleme wurden gehört.
Quelle: ntv.de