Stimmung nach dem Cherson-Abzug "In Russland kommt apokalyptische Stimmung auf"
15.11.2022, 09:35 Uhr
Straßenszene in Moskau. Die Stimmung in Russland sei "wirklich schlecht", sagt Jens Siegert.
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
Die Reaktion vieler Russen auf die Niederlage der russischen Armee in Cherson ist Resignation, sagt der in Moskau lebende Politologe Jens Siegert. Bei den einen sei dies verbunden mit dem Glauben an die Behauptungen des Staates, dass der Rückzug nur eine Frontbegradigung war. Bei den anderen sei es eine Resignation, die den Abzug als Auftakt für weitere Niederlagen der russischen Armee sieht. Allerdings könne die schlechte Stimmung im Volk Putin bisher nichts anhaben. Es sei möglich, "dass er von der apokalyptischen Stimmung sogar profitieren kann".
ntv.de: Wie hat die russische Öffentlichkeit den Abzug der russischen Armee aus Cherson aufgenommen?
Jens Siegert: Das kommt darauf an, was Sie unter russischer Öffentlichkeit verstehen. All die Leute, die immer erklären, dass das, was der Kreml tut, richtig ist, die haben natürlich die offizielle Version im Wesentlichen weitergetragen. Wenn man im Alltag mit Russen spricht, dann gibt es vor allem zwei Reaktionen. Die eine ist eine Art Resignation, weil man so etwas schon lange erwartet hat, vielleicht verbunden mit dem Glauben daran, dass die offizielle Version stimmt.

Jens Siegert, Journalist und Politikwissenschaftler, lebt seit 1993 in Moskau. Von 1999 bis 2015 leitete er das Russland-Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung. 2021 erschien sein Buch "Im Prinzip Russland".
(Foto: Körber Stiftung)
Die Version von der "Umgruppierung" der Truppen?
Ja, dass der Abzug so eine Art Frontbegradigung war, der am weiteren Verlauf des Kriegs nichts ändert.
Und die zweite Reaktion, der Sie begegnen?
Die ist ebenfalls resignativ, sieht die Einnahme von Cherson durch die Ukraine aber als Auftakt zu weiteren Niederlagen der russischen Armee, ja der Niederlage im Krieg überhaupt.
Dann wird der Abzug in Russland als Blamage der Armee wahrgenommen?
Ja, das ist ohne Frage so. Die einen versuchen, sich das ein wenig schönzureden. Dann heißt es, das sei nur eine Momentaufnahme, bald kämen die ganzen mobilisierten Soldaten an die Front, dann werde richtig ernst gemacht. Aber auch bei Russen, die Putin im Prinzip unterstützen, kommt zunehmend eine geradezu apokalyptische Stimmung auf, dass jetzt alles den Bach runtergeht - auch wenn sie das so nicht sagen würden. Aber die Stimmung ist wirklich schlecht.
Was bedeutet das für Putin? Nach Zahlen des russischen Lewada-Zentrums hat er eine Zustimmung von 79 Prozent in der russischen Bevölkerung, aber gleichzeitig machen sich 88 Prozent der Russen Sorgen wegen der Entwicklung in der Ukraine, auch wenn 73 Prozent sagen, dass sie "die Handlungen der russischen Armee in der Ukraine" unterstützen.
Das Interessante daran ist, dass sich die Zustimmung zu Putin von der Zustimmung zum Krieg immer stärker abkoppelt. Auf Putin schlägt die schlechte Stimmung zumindest bisher nicht durch. Das ist etwas, das sich durch die russische Geschichte zieht: Schuld an allem Elend ist nicht der Zar, schuld sind die bösen Bojaren, die Großgrundbesitzer, unter denen die armen Leute leiden. Die Militärs beklauen das Volk, die Beamten sind unfähig - und Putin muss das alles richten. Deshalb ist es möglich, dass er von der apokalyptischen Stimmung sogar profitieren kann: Wenn alles den Bach runtergeht, dann ist Putin der letzte Halt. Ihn auch noch zu verlieren, wäre für die meisten Russen zu schrecklich. Das ist eine psychologische Schutzfunktion: Wenn man auch noch das Vertrauen in Putin verliert, so könnte man dieses Gefühl interpretieren, dann verliert Russland nicht nur den Krieg, sondern vielleicht auch die Krim, was für die meisten Russen viel schlimmer wäre als der Verlust von Cherson oder von Donezk und Luhansk. Dann, so die Vorstellung, könnte es auch irgendwann selbst Russland nicht mehr geben.
Es gibt die Ansicht, dass Putin den Krieg gewinnen muss, um sich im Amt halten zu können. Halten Sie das für wahrscheinlich?
Das ist eine Frage, die man nicht beantworten kann. Natürlich spricht viel für die These, dass es nach einer militärischen Niederlage Konsequenzen gibt. Es gibt viele Beispiele in der russischen Geschichte, dass es nach einem verlorenen Krieg zu Revolutionen oder zu revolutionären Umbrüchen gekommen ist. Aber es gibt auch ebenso viele Gegenbeispiele. Es kann durchaus sein, dass dieser Mechanismus, an Putin festzuhalten, überwiegt - dass Putin der letzte Strohhalm ist, der verhindern soll, dass alles auseinanderfliegt. Aber voraussagen kann man das nicht.
Mit Jens Siegert sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de