Politik

Ukraine fängt ab, EU macht Druck Irans Kamikaze-Drohnen bringen Kreml-Terror nach Kiew

Mit einer ganzen Welle von Kamikaze-Drohnen greift Russland in der Nacht und am Morgen zivile Ziele in der Ukraine an. Die Drohnen aus dem Iran stellen die Verteidiger vor große Herausforderungen, könnten aber absehbar etwas von ihrem Schrecken verlieren.

Auch die dritte Oktoberwoche beginnt für die Ukraine mit massiven Angriffen auf das ganze Land. Die russischen Besatzer feuern auf Ziele fern der Front, auf Kraftwerke, andere Versorger und Wohngebiete. Niemand soll sich im nicht-besetzten Teil der Ukraine sicher fühlen können. Weil aber Russland acht Monate nach Beginn des Krieges noch immer keine Luftüberlegenheit herstellen und die Ukraine immer mehr Luftabwehrsysteme organisieren konnte, fühlt Russlands Luftwaffe sich selbst nicht so sicher über ukrainischem Boden. Wenn Russland keine Raketen auf das Land abfeuert, setzt es daher vor allem auf Drohnen - insbesondere auf sogenannte Kamikaze-Drohnen, die nach einhelliger Einschätzung aus iranischer Produktion stammen. Auch wenn Teheran die Lieferungen - und damit die aktive Parteinahme für Russlands Angriffskrieg bestreitet.

Dieses Kiewer Wohnhaus wurde am Montagmorgen nach dem Einschlag einer Drohne, mutmaßlich einer Kamikaze-Drohne, zerstört.

Dieses Kiewer Wohnhaus wurde am Montagmorgen nach dem Einschlag einer Drohne, mutmaßlich einer Kamikaze-Drohne, zerstört.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Tatsächlich tauchen aber schon seit Wochen immer wieder Kamikaze-Drohnen vom Typ Shahed-136 über der Ukraine auf. Bei Attacken auf die Hafenstadt Odessa war allein das Erscheinen der lauten Luftgeräte am Himmel geeignet, die Bevölkerung zu terrorisieren. Am Montag traf in Kiew nach Angaben von Bürgermeister Vitali Klitschko eine Drohne ein Wohnhaus. Bilder zeigen ein zerstörtes Gebäude, in das die Drohne eingeschlagen und explodiert sein soll. Dieser Angriff galt offenkundig der Zivilbevölkerung und hatte nichts mit einem Angriff auf militärische Ziele zu tun. Doch auch militärisch sind die Drohnen ein Faktor: Das ukrainische Militär berichtete wiederholt von Verlusten von Geschützen, gepanzerten Fahrzeugen und anderem militärischen Gerät.

Massiv hat das Land daher aufgerüstet: mit Anti-Drohnen-Gewehren wie dem "Sky Wiper" EDM4S, mit dem Einsatz der Flugabwehr auch gegen die kleineren Drohnen, und selbst die ukrainische Luftwaffe soll schon Drohnen abgeschossen haben. Am Montagmorgen sollen mindestens zwei russische Drohnen von ukrainischen Flugzeugen abgeschossen worden sein. Insgesamt holte die ukrainische Armee nach eigenen Angaben seit Sonntagabend 37 russische Drohnen vom Himmel. Das seien um die 85 bis 86 Prozent der Drohnen, die bei den jüngsten Angriffen eingesetzt worden seien, teilt ein Sprecher der ukrainischen Luftwaffe mit. Das sei ein "ziemlich gutes Ergebnis". Aber: Der Einsatz teurer, westlicher Flugabwehr-Munition gegen kleine, vergleichsweise billige Drohnen ist wenig effizient.

Mischung aus Flugzeug und Marschflugkörper

Das soll ein Teil einer abgeschossenen Shahed-136 sein.

Das soll ein Teil einer abgeschossenen Shahed-136 sein.

(Foto: via REUTERS)

Nicht alle von Russland eingesetzten Drohnen sind Kamikaze-Drohnen aus dem Iran. Moskau verfügt auch über Aufklärungs- und bewaffnete Drohnen aus eigener Produktion. Aber ohne Chips aus westlicher Produktion, auf die Russland wegen der Sanktionen kaum noch Zugriff hat, ist die Produktion von High-End-Produkten schwierig. Und hier kommen die iranischen Geräte ins Spiel, denn das Land ist im Umgang mit Sanktionen geübt und stellt Rüstungsgüter routiniert mit auf den Weltmärkten frei verfügbarer Technologie her. Wie "Military Factory" erklärt, handelt es sich bei Shahed-136 um mit Sprengköpfen bestückte unbemannte Flugkörper, die dazu da sind, Bodenziele aus der Entfernung zu neutralisieren. Weil sie oft im Zielgebiet zunächst kreisen und auf die Zuweisung eines konkreten Ziels warten, nennt man sie auch "Loitering Munition" ("Herumlungernde Waffen").

Die Shahed-136 ist ein Deltaflügler, in dessen Nase sich ein Gefechtskopf befindet. Angetrieben wird er von einem Propeller im Heck, aber zum Start wird er von einer Rakete unterstützt, die die Drohne kurz danach abwirft. Das Trägergestell kann mehrere Shahed-136 fassen und starten und ist leicht und kompakt genug, um auch auf gewöhnliche Lastwagen montiert zu werden.

Diese Lastwagen scheinen überwiegend auf der Krim zu stehen. Alle bisherigen Angriffe mit Kamikaze-Drohen sollen von dort gestartet sein. Nach Angaben des ukrainischen Militärs kamen die Drohnen auch am Sonntag und Montag aus dem Süden angeflogen. Das "Military Watch Magazine" nennt die Kamikaze-Drohnen eine Mischung aus Marschflugkörper und unbemanntem Flugzeug. Sie seien wesentlich billiger als andere Langstrecken-Lenkwaffen, die Russland auch bereits größtenteils aufgebraucht habe.

Bauteile aus dem Katalog

Wie günstig die Herstellung ist, erklärt Oleg Katkow, Chefredakteur des ukrainischen Portals "Defense Express". An der Drohne sei weder eine Videokamera noch ein anderer Sensor zu erkennen, sagte er dem Magazin "The New Voice Of Ukraine". Er gehe daher davon aus, dass die Satellitennavigation die einzige Orientierungsquelle ist. Da der Iran unter strengen Sanktionen steht und deshalb keinen Zugang zu einem militärischen GPS habe, werde die Shahed-136 von einem gewöhnlichen zivilen GPS-Sensor gelenkt, den man bei dem chinesischen Online-Händler AliExpress kaufen könne. Auch der Motor sei dort zu haben.

Dem ukrainischen militärischen Dienstleister "Defense Express" zufolge setzen die Russen auch eine kleinere Variante der iranischen Kamikaze-Drohne ein, die Shahed-131. Diese sei von Experten bereits zerlegt und analysiert worden. Unter anderem habe sich herausgestellt, dass die Steuereinheit der Drohne aus fünf Platinen bestehe, die mit frei erhältlichen Prozessoren des US-Herstellers Texas Instruments bestückt sei.

Eine "unangenehme Überraschung" sei gewesen, dass man eine Vorrichtung gefunden habe, die verhindere, dass das GPS-Signal manipuliert werden könne. Gegen Störsender sei die Drohne aber nicht gewappnet. Falle GPS deswegen aus, werde die Shahed-131 durch ein "primitives Trägheitssystem" ungefähr auf Kurs und Höhe gehalten.

Reichweite "mehrere Hundert Kilometer"

Basierend auf iranischen Informationen habe die größere Kamikaze-Drohne eine Spannweite von 2,5 bis 3,5 Meter. Ihr maximales Startgewicht betrage 200 Kilogramm, so Oleg Katkow. Daraus ergäbe sich, dass der Sprengkopf 50 bis 60 Kilogramm wiegen könne. Die vom Iran angegebene Reichweite von 2000 bis 2500 Kilometer glaubt er nicht. Das Fluggerät müsste dafür größer und schwerer sein, "und sein Motor wäre kein 50-PS-Mopedmotor". Katkow schätzt die Reichweite daher auf "maximal mehrere Hundert Flugkilometer".

"Defense Express" zufolge ist die Shahed-131 etwas kleiner und habe eine Spannweite von etwa 2,2 Meter. Das maximale Startgewicht werde auf 135 Kilogramm geschätzt, das Gewicht des Sprengkopfes auf 10 bis 15 Kilogramm. Die Reichweite soll bis zu 900 Kilometer betragen.

Es bestehe "eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die iranische Drohne aus am Markt erhältlichen elektronischen Bauteilen zusammengesetzt wurde", sagt Katkow. Dadurch ergibt sich laut "Defense Express" die Gefahr, dass die Russen trotz Sanktionen nach dem iranischen Modell eine eigene Massenproduktion solcher Kamikaze-Drohnen aufbauen.

Masse statt Klasse

Sollten die Drohnen tatsächlich ausschließlich per GPS navigieren, geht Katkow davon aus, dass sie relativ leicht aus der Bahn zu bringen sind. Dafür würden Störsender genügen, die man ebenfalls bei AliExpress bekomme, sagt er. "Defense Express" weist außerdem darauf hin, dass mit GPS nur unbewegliche Ziele angreifbar seien. Weitere Gegenmaßnahmen könnten Tarnung, Desinformation und Täuschung sein.

Um mangelnde Zuverlässigkeit und Genauigkeit der Shahed-Drohnen zu kompensieren, würden sie als Schwarm eingesetzt, so der Militärexperte. Fünf bis sechs oder noch mehr würden auf ein Ziel abgefeuert, in der Hoffnung, dass einige treffen. Bei einem massenhaften Einsatz sei es für jedes Luftabwehrsystem schwierig, die Kamikaze-Drohnen als kleines Ziel in niedriger Flughöhe abzuschießen. Der Organisation Ukrainisches Militärzentrum zufolge fliegt eine Shahed-136 in einer Höhe von 60 bis 4000 Metern mit einer Geschwindigkeit von etwa 180 Kilometern pro Stunde.

Raketen zu teuer und zu knapp

Flugabwehrraketen können zwar effektiv gegen die Drohnen eingesetzt werden, aber es wäre nicht effizient. Es sei einfach unrentabel, eine mit Komponenten von AliExpress zusammengesetzte Drohne mit einer Rakete abzuschießen, die ab 300.000 Dollar kosten kann, erklärt Katkow. Außerdem seien die Ressourcen an Material viel zu knapp. Der britische Militärexperte Justin Bronk schreibt auf Twitter, weil sie so langsam und tief flögen, könnten die Kamikaze-Drohnen vergleichsweise leicht mit altmodischen Radar-Flugabwehrgeschützen wie dem deutschen Gepard abgeschossen werden. Aber auch hier seien die Ressourcen beschränkt, so "Defense Express". Günstiger und effizienter sind da die "Sky Wiper", die den Kontakt der Drohne zum Absender unterbrechen, woraufhin diese entweder automatisch zurückkehre, kontrolliert zu Boden gehe oder stumpf ihre Position halte, bis ihr die Energie ausgeht.

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Ob die iranischen Drohnen den Kriegsverlauf entscheidend verändern können, hänge von deren Menge und dem Zeitpunkt ihrer Lieferung ab, so Katkow. Aktuell schätze er deren Anzahl auf einige Hundert bis 1000. Wenn diese sich aber als wirksam erwiesen, könnte Russland größere Mengen nachbestellen oder eine eigene Produktion beginnen. Letzteres käme Teheran womöglich gelegen: Das Land steht jetzt schon unter verstärktem Sanktionsdruck des Westens, weil das Mullah-Regime die jüngste Protestwelle einmal mehr brutal niederzuschlagen versucht. Die aktive Militärhilfe für Russlands Angriffskrieg könnte die westliche Entschlossenheit im Umgang mit Teheran zusätzlich befeuern.

Als am Montagmorgen die EU-Außenminister in Brüssel zusammenkamen, ließ der Österreicher Alexander Schallenberg wissen, eine Bereitstellung von Ausrüstung für Russland käme einer aktiven Unterstützung des von der russischen Regierung geführten Krieges gegen die Ukraine gleich. Und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte: "Wir werden nach konkreten Beweisen für die Beteiligung suchen." Möglich also, dass die Shahed-136 auch schnell wieder aus dem Himmel über der Ukraine verschwinden.

Quelle: ntv.de

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