SPD-Parteitag in Wiesbaden "Katholisch. Arbeiterkind. Mädchen. Land"
22.04.2018, 13:04 Uhr
Favoritin im Rennen um den SPD-Vorsitz: Andrea Nahles.
(Foto: AP)
Der Parteitag in Wiesbaden soll das Startsignal für die große SPD-Erneuerung sein. Der scheidende Parteichef Scholz redet der Partei ins Gewissen. Dann sprechen die beiden Kandidatinnen.
Der scheidende kommissarische SPD-Chef Olaf Scholz hat seine Partei zu mehr Selbstbewusstsein aufgerufen. "Dass wir uns wieder zutrauen, dieses Land zu regieren, und dass wir wieder stärkste Partei werden, das muss das Ziel sein, das wir alle gemeinsam verfolgen", sagte Scholz am Sonntag beim SPD-Sonderparteitag in Wiesbaden. Die SPD will dort erstmals in ihrer 155-jährigen Parteigeschichte eine Frau zur Vorsitzenden wählen. Bundestagsfraktionschefin Andrea Nahles tritt dafür an. Als Gegenkandidatin bewirbt sich die Flensburger Oberbürgermeisterin, Simone Lange - ihr werden aber kaum Chancen eingeräumt.
Nahles stellte sich mit sehr persönlichen Worten den rund 600 Delegierten vor. "Vor 30 Jahren bin ich in die SPD eingetreten. Die erste in unserer Familie. Katholisch. Arbeiterkind. Mädchen. Land. Muss ich noch mehr sagen. (...) Meine Mutter ist heute hier. Hallo Mama. Auch Du hast damals sicher nicht gedacht, dass ich hier heute stehen würde. Dass ich das heute tun darf, verdanke ich meinen Eltern."
Nahles sieht die demokratische Grundordnung durch Rechtspopulisten in Gefahr. "Es geht um nichts weniger als um den Erhalt unserer eigenen Demokratie", sagte Nahles. Die demokratische Ordnung in Europa werde heute von den Rechtspopulisten stark herausgefordert. "Die Rechten suchen nicht die Auseinandersetzung mit den Starken. Sie kämpfen gegen die Schwächsten", sagte Nahles mit Blick auf den AfD-Aufstieg in Deutschland. Es sei hochgefährlich, ihre Argumente nachzuplappern. "Diese Kräfte sind nicht das Volk, sie sind ein Angriff auf das Volk." Sie kritisierte auch den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán.
Vor allem US-Präsident Donald Trump radiere gerade das Prinzip der Solidarität vollständig aus. Er bediene nur die eigenen Interessen mit dem America-First-Prinzip. "Bis gestern haben wir gedacht, dass das in der ältesten Demokratie der Welt nicht möglich ist." Man müsse sich dem entgegenstellen. Eine der Aufgaben für die Sozialdemokraten müsse sein, dass sie ein solidarischer Anwalt verunsicherter Bürger ist. Die SPD stehe für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. "Solidarität ist das, woran es am meisten fehlt in dieser globalisierten, neoliberalen, turbodigitalen Welt." Solidarität bedeute auch gebührenfreie Schulen und Unis - und in der Wirtschaft, dass der Wohlstandsgewinn allen zugute kommen müsse, betonte Nahles. "Wir müssen auch sagen, wie wir neue Jobs in strukturschwachen Regionen schaffen können."
Mit Spannung wird vor allem erwartet, wie Nahles bei den Delegierten abschneidet. Sie ist bisher durch ihre mitunter polarisierende, den Konflikt nicht scheuende Art ohnehin kein Parteiliebling - auch bei den Bürgern. 2007 erzielte sie mit 74,8 Prozent bei der Wahl zur Vizevorsitzenden ihr bislang bestes Ergebnis. Scholz nannte es einen "historischen Moment", dass die SPD nun eine Frau als Vorsitzende bekomme. "Ich glaube, das ist ein Fortschritt", sagte er. "Ein Fortschritt, der lange fällig war. Gut, dass er heute kommt."
"Ich bin heute eure Alternative"
Lange mahnte in ihrer Bewerbungsrede, die SPD müsse wieder die Herzen der Menschen erreichen. "Uns fehlt es an Teamspiel, an Offenheit und Glaubwürdigkeit." Sie kandidiere, weil Demokratie nichts mit Alternativlosigkeit zu tun hat. "Ich bin heute eure Alternative." Sie stehe für einen echten Aufbruch anstatt für ein Weiter-so. "Mich zu wählen, bedeutet Mut." Und ohne Mut gehe es nicht.
Lange kritisierte in ihrer Rede die Hartz-Reformen und kündigte eine Entschuldigung bei Betroffenen an. Die in der SPD emotionale geführte Debatte über die Agenda-Politik von Ex-Kanzler Gerhard Schröder sei keine "Vergangenheitsdebatte", denn Hartz IV sei für Millionen Menschen Alltag, sagte sie. Die SPD habe in Kauf genommen, dass heute Menschen arm seien, obwohl sie Arbeit hätten. "Und dafür möchte ich mich bei den Menschen, die es betrifft, entschuldigen."
Es ist in der Geschichte der Bundesrepublik erst die zweite Kampfkandidatur bei einem SPD-Bundesparteitag. Oskar Lafontaine hatte 1995 - unterstützt von der damaligen Jusos-Chefin Nahles - den Vorsitzenden Rudolf Scharping gestürzt. Die SPD war bei der Bundestagswahl 2017 unter ihrem damaligen Parteichef Martin Schulz auf ein Tief von 20,5 Prozent der Stimmen gesackt. Durch die harten Debatten über eine Beteiligung an einer weiteren großen Koalition gab und gibt es erhebliche Unruhe in der Partei. Nahles hat einen großen Erneuerungsprozess versprochen, parallel zur Regierungsarbeit in der großen Koalition. Die Parteispitze erhofft sich vom Parteitag in Wiesbaden ein Aufbruchsignal für die Neuaufstellung der SPD. Auch Scholz mahnte: "Wir müssen uns jetzt an die Arbeit machen." Für die SPD beginne nun eine neue Zeit.
Es ist nach einem turbulenten Jahr der fünfte SPD-Parteitag in 13 Monaten. Nach dem unter großen Bauchschmerzen erfolgten Eintritt in die große Koalition war der umstrittene Vorsitzende Schulz zurückgetreten, kommissarisch hatte Scholz das Amt übernommen.
Quelle: ntv.de, cro/dpa