Politik

Strategisch wichtig Diese sechs Orte sind besonders umkämpft

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Seit mehr als einer Woche tobt Krieg in der Ukraine. In der Nacht auf den 24. Februar befahl Russlands Präsident Wladimir Putin den Angriff auf das Nachbarland. Welche konkreten Ziele der Kreml-Chef verfolgt, das bleibt bis heute unklar. Offenkundig ist aber, dass der Widerstand der Ukrainer deutlich größer ist als von Putin erwartet. Zwar sprach der russische Machthaber noch am Donnerstag davon, dass die Offensive genau so verlaufe, wie geplant. Aber internationale Experten zweifeln an den Aussagen des 69-Jährigen. Mit Cherson gelang es den russischen Streitkräften bisher, nur eine einzige größere ukrainische Stadt zu erobern. Wir blicken auf die aktuelle Situation (Stand Freitagmittag) an den derzeit strategisch wichtigsten Orten.

Die Lage in Cherson: Die Seehafenstadt im Süden der Ukraine (nordwestlich der Krim) steht mittlerweile unter russischer Kontrolle. Das haben ukrainische Beamte bereits am Donnerstag bestätigt. Cherson ist damit die erste Großstadt im Land, die von den Invasoren erobert werden konnte. Auch die US-Regierung geht davon aus, dass Cherson gefallen ist. Zwar habe man niemanden vor Ort, aber eben auch keinen Grund, an den Berichten zu zweifeln, die von den Ukrainern selbst kommen, erklärte Pentagon-Sprecher John Kirby gegenüber CNN. Zuletzt hatte es auch Berichte gegeben, dass Cherson von der ukrainischen Armee aufgegeben worden war. Von Kämpfen war in den Lageberichten der ukrainischen Verteidiger keine Rede mehr.

Die Metropole mit 290.000 Einwohnern gilt als strategisch bedeutsame Eroberung. Das russische Militär versucht offenbar, die Ukraine einzukreisen. Mit Cherson fällt ein wichtiger Schwarzmeerhafen in russische Hände. Für die Wirtschaft der Ukraine und die Versorgung im Land ist der Verlust der Hafenstadt ein harter Schlag. Die Kontrolle über Cherson ist für die Russen allerdings auch wichtig, um Angriffe auf die weiteren wichtigen Hafenstädte Mykolajiw (die Offensive hier läuft bereits) und Odessa vorzubereiten. Sollten Mykolajiw und Odessa fallen, wäre die Ukraine vom Zugang zu den Weltmeeren abgeschnitten. Der Berater des ukrainischen Präsidenten, Olexii Arestowytsch, zeigt sich verhalten zuversichtlich. Man sei vorsichtig optimistisch mit Blick auf die künftige Entwicklung. Er erklärt, Vorstöße der russischen Armee auf die Stadt Mykolajiw seien zurückgeworfen worden. Allerdings berichtete Verteidigungsminister Oleksij Resnikow, dass die ukrainische Marine ihr Flaggschiff "Hetman Sahajdatschnyj" selbst versenkt habe, damit es nicht den Gegnern in die Hände falle. Die Fregatte lag zur Reparatur vor Anker. Das weiter westlich liegende Odessa sei, heißt es, bisher keiner unmittelbaren Gefahr ausgesetzt.

Die Lage rund um das Atomkraftwerk in Saporischschja: Das größte Atomkraftwerk Europas steht unter russischer Kontrolle. Nach einem Angriff in der Nacht wurde die Anlage am Freitagvormittag komplett eingenommen. Das wurde von einer regionalen Behörde bestätigt. Das bestehende Betriebspersonal überwache den Zustand der Kraftwerksblöcke. So soll sichergestellt werden, dass der Betrieb weiter den Sicherheitsanforderungen entspreche. Bei dem Angriff war es zu einem Brand auf dem Gelände gekommen. Nach Behördenangaben brach das Feuer in einem Gebäude für Ausbildungszwecke aus, die Reaktorblöcke waren demnach nicht betroffen, dafür aber die Stromversorgung einer nahe gelegenen Ortschaft. Wie der Bürgermeister von Enerhodar via Telegram mitteilte, blieben die Wohnungen vor Ort während des Beschusses aufgrund von Schäden an einer Fernwärmeleitung ohne Heizung. Strategisch ist das Atomkraftwerk besonders wichtig, denn es kann im Regelbetrieb bis zu 20 Prozent der Energieversorgung im Land beisteuern.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat den russischen Panzern einen gezielten Beschuss der Anlage vorgeworfen. "Das ist Terror ungesehenen Ausmaßes", urteilte er in einer Ansprache. Mit der Explosion des größten Atomkraftwerks von Europa hätte die Geschichte Europas enden können. "Bei den russischen Militärs ist die Erinnerung an Tschernobyl komplett weg", betonte der 44-Jährige. Das russische Verteidigungsministerium wiederum macht für den Angriff auf das Atomkraftwerk Saporischschja "ukrainische Saboteure" verantwortlich. Dies sei eine monströse Provokation, hieß es.

Die Lage in Mariupol: Die ukrainischen Streitkräfte haben nach britischen Angaben weiterhin die Kontrolle über die Hafenstadt Mariupol im Südosten. Sie sei aber wohl von der russischen Armee eingekreist, teilt das britische Verteidigungsministerium auf Basis eines neuen geheimdienstlichen Lageberichts mit. Demzufolge steht auch die zivile Infrastruktur weiter unter intensivem Beschuss durch das russische Militär. Dabei hatte Putin zuletzt dementiert, dass sich Angriffe gegen solche Ziele richten würden. "Der Feind hat einen erheblichen technischen Vorteil", heißt es in einem Lagebericht der Ukrainer. Zudem sei das Flugabwehrsystem an der Schwarzmeerküste angegriffen worden. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Bürgermeister Wadym Boitschenko hatte am Donnerstag vor einer Belagerung "wie in Leningrad" gewarnt. Die russischen Truppen würden die Stadt belagern und versuchen, Mariupol von Strom, Lebensmitteln, Wasser, Heizwärme und Infrastruktur abzuschneiden. "Sie haben die Züge zerstört, so dass wir unsere Frauen, Kinder und älteren Menschen nicht aus der Stadt bringen konnten", erklärte Boitschenko. Die "Blockade von Leningrad" durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg hatte hunderttausende Opfer gefordert. Ebenso wie Cherson (siehe oben) ist die Stadt am Asowschen Meer strategisch wichtig, um der Ukraine den Handel auf dem Seeweg zu versperren. Zudem grenzt das Stadtgebiet von Mariupol fast an die Kontaktlinie zu den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine. Die Einnahme von Mariupol würde den russischen Streitkräften einen direkten Landkorridor zur Halbinsel Krim eröffnen.

Die Lage in der Hauptstadt Kiew: Die russischen Soldaten setzen nach ukrainischen Armeeangaben ihren Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew fort. "Die Hauptanstrengungen der Besatzer konzentrieren sich auf die Einkreisung Kiews", heißt es im jüngsten Morgenbericht des ukrainischen Generalstabs. Dabei wurden allerdings keine Angaben zu Kämpfen rund um die Millionenstadt gemacht. In der Stadt wurde seit Mitternacht mehrfach Luftalarm ausgelöst. Die Bewohner sollten sich in Luftschutzbunker in Sicherheit bringen. Laut ukrainischer Darstellung haben sich die Truppen der Angreifer derweil von dem heftig umkämpften Flugplatz Hostomel nordwestlich von Kiew zurückgezogen. Ob das aufgrund von Gefechtserfolgen der Ukrainer stattfand, ist nicht bekannt. Keine neue Erkenntnisse gibt auch es zum russischen Konvoi, der sich seit auf Kiew zubewegt und dabei offenbar massiv ins Stocken geriet. Den letzten bekannten Stand können Sie hier nachlesen.

Die Lage in Charkiw: Wie das sehr gut informierte US-Institut ISW in einem aktuellen Briefing (Donnerstag, 22 Uhr unserer Zeit) berichtet, sind die russischen Versuche die zweitgrößte Stadt des Landes zu erobern weiterhin nicht erfolgreich. Allerdings werden immer wieder schlimme Luftangriffe gemeldet, auch auf Wohnhäuser, Gewerbegebiete und Einkaufszentren. Aus dem Stadtkern sind massive Zerstörungen dokumentiert. Nach von RTL/ntv verifizierten Informationen gab es unter anderem einen Großbrand in der unmittelbaren Umgebung eines Bürogebäude des ukrainischen Geheimdienstes SBU nahe einer berühmten Kathedrale.

Die Analysten staunen dennoch über das Vorgehen der Angreifer, die einzelne Bataillone an verschieden Linien einsetzen, statt auf eine konzertierte Aktion zu setzen. In dem Briefing des Instituts heißt es dazu: "Dieses Versagen der grundlegenden operativen Kunst – lange Zeit eine Stärke des sowjetischen Militärs und intensiv an russischen Militärakademien studiert – bleibt unerklärlich."

Womöglich lässt Putin bereits einen besonders brutalen Angriff auf die Stadt vorbereiten. Mehrere Medien berichteten am Donnerstag, dass rund 70 Kilometer vor der Stadt ein TOS-Waffensystem gesichtet wurde. Das ist Mehrfachraketenwerfen, der durch den Einsatz von Vakuum-Sprengkörpern besonders verheerende Zerstörung anrichten kann. Der Einsatz solcher Waffen ist laut Genfer Konventionen zum Schutz der Zivilbevölkerung untersagt.

Die Lage in Tschernihiw: Bei russischen Luftangriffen im Norden der Ukraine sind nach ukrainischen Angaben 47 Menschen getötet worden. Damit korrigierten die örtlichen Behörden in der Großstadt an der Desna ihre Angaben zuletzt nach oben, nachdem sie zuvor noch von 33 Todesopfern gesprochen hatten. Russische Streitkräfte hätten Wohngebiete, darunter Schulen und ein Hochhaus, beschossen, hieß es von ukrainischer Seite.

Am Donnerstag hatten die Rettungsdienste nach eigenen Angaben wegen schwerem Beschuss ihre Arbeiten zeitweise aussetzen müssen. Die Stadt mit 300.000 Einwohnern liegt im Dreiländereck Ukraine, Belarus (das womöglich auch Truppen in den Krieg entsendet) und Russland und gilt als strategisch wichtig, um Kiew entlang der Flüsse Desna und Dnepr von Norden her einzukesseln.

Quelle: ntv.de, mit dpa/AFP/rts

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