Debatte um Schulschließungen Merkel: "Außergewöhnlicher als Bankenkrise"
12.03.2020, 21:30 Uhr
Deutschland wird vorerst nicht flächendeckend seine Schulen schließen, eine Option ist dies aber sehr wohl, wie Kanzlerin Merkel am Abend bei einer Pressekonferenz sagte. Sie ruft dazu auf, alle unnötigen Sozialkontakte zu vermeiden.
Deutschland verschärft massiv seine Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus. Dabei verdichten sich die Anzeichen, dass mehrere Bundesländer Schulschließungen ernsthaft in Erwägung ziehen. Ferner soll der Wirtschaft massiv unter die Arme gegriffen werden. Derweil fahren Deutschlands Nachbarn das öffentliche Leben immer weiter herunter. In Italien läuft inzwischen praktisch nur noch ein öffentlicher Notbetrieb. Frankreich schließt kommende Woche alle Schulen. Österreich rät zum weitgehenden Verzicht auf soziale Kontakte. An den Börsen in Deutschland und den USA kam es zu historischen Verlusten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie Bayerns Regierungschef Markus Söder machten deutlich, dass Geld bei allen anstehenden Aktionen praktisch keine Rolle spielen werde. "Die Lage ist außergewöhnlicher als in der Bankenkrise", sagte Merkel. "Wir werden uns daran orientieren, was Deutschland braucht", ergänzte Bayerns Regierungschef Markus Söder.
Der schon beschlossenen Absage von Großveranstaltungen sollte nun ein "Verzicht auf alle nicht notwendigen Veranstaltungen unter 1000 Teilnehmern" folgen, betonte die Kanzlerin. Wo immer es möglich sei, solle auf soziale Kontakte verzichtet werden, sagte sie weiter.
Zuvor hatten sich die Länderchefs mit Experten des Robert-Koch-Instituts (RKI) und der Berliner Charité getroffen und stundenlang nach gemeinsamen Schritten gesucht. "Durch Corona ist die Welt eine andere", sagte der CSU-Politiker. Das Geschehen sei extrem dynamisch. "Was gestern unmöglich schien, ist morgen Realität." Söder sprach von einer echten "Bewährungsprobe für unser Gesundheitssystem und unser Land". Die Lage verschlechtere sich täglich. Dabei warnte er vor Panik, drang aber auf ein entschlossenes Handeln.
"'Whatever it takes', hat mal jemand gesagt"
In der Debatte mit den anderen Regierungschefs hatten sich zuvor unterschiedliche Vorstellungen etwa beim Thema Schulschließungen abgezeichnet. In Bayern und Baden-Württemberg werden die Landesregierungen morgen in Sondersitzungen darüber befinden. Schulschließungen könne der Bund "nicht anordnen". Am Ende aber werde es "zu einem Gleichklang kommen", zeigte sich Merkel überzeugt. Söder zufolge gibt es "einige große Bundesländer, die da sehr entschlossen" seien. "Am Ende werden die meisten dem Vorbild folgen", sagte der CSU-Politiker. Die Experten hätten deutlich gemacht, dass die kommenden vier bis fünf Wochen maßgeblich über den weiteren Verlauf der Coronakrise entscheiden würden.
Mit deutlichen Worten kündigten Söder und Merkel zudem Hilfen für die Wirtschaft an. Die Kanzlerin sprach von einer schwierigen Situation im wirtschaftlichen Bereich. "Deutschland wird das, was notwendig ist, tun, um seiner Wirtschaft zu helfen und Arbeitsplätze zu sichern", sagte sie. Söder betonte, es sei wichtig, "dass wir nicht in eine tiefere Rezession kommen". "'Whatever it takes', hat mal jemand gesagt", sagte Söder unter Verweis auf eben jene Worte von EZB-Chef Mario Draghi in der Eurokrise.
"Es ist nicht unser Thema, wie zum Schluss die Haushaltsbilanz aussieht", sagte Merkel weiter. Dies sei ein großer Einschnitt, der Deutschland sehr viel abverlange. "Ganz besondere Situationen erfordern auch besondere Maßnahmen." Söder schloss sich dieser Position an: "Wir werden uns nicht an Buchhaltungsfragen orientieren, sondern daran, was Deutschland braucht", sagte er. Konkrete Aktionen wollen am morgigen Freitag Bundesfinanzminister Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Peter Altmaier bekannt geben.
Frankreich stellt Unterricht ein
Unterdessen hat im Nachbarland Frankreich Präsident Emmanuel Macron die Schließung aller Schulen, Hochschulen und Kindertagesstätten im Land angekündigt. Diese Anweisung gelte ab Montag bis auf Weiteres, sagte er in einer Fernsehansprache an die Nation. Er rief die EU auf, "stark und schnell" auf die wirtschaftliche Krise zu reagieren, die das Virus verursacht hat - "koste es, was es wolle". Die Coronavirus-Pandemie sei die "schlimmste Gesundheitskrise, die Frankreich seit einem Jahrhundert erlebt" habe, sagte der Staatschef.
Die Schulschließungen gehören zu einem umfassenden Maßnahmenpaket, das auch Hilfen für die angeschlagene französische Wirtschaft vorsieht. Vorgesehen sind nach Macrons Worten unter anderem eine Entlastung der Unternehmen von Steuern und Abgaben sowie "massive" Hilfen bei Kurzarbeit. Zudem habe er seine Regierung beauftragt, ein "nationales und europäisches Konjunkturprogramm" auszuarbeiten.
Über verschärfte Kontrollen und die mögliche Schließung von Grenzen könne nur auf europäischer Ebene entschieden werden, betonte der Präsident in seiner rund 20-minütigen Ansprache. Er sprach sich gegen nationale Alleingänge aus. Zuvor hatten Tschechien und die Slowakei Einreiseverbote unter anderem für Bürger aus Deutschland und Frankreich verhängt. Frankreich ist eines der am stärksten betroffenen Länder der EU. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sind inzwischen 61 Todesfälle und insgesamt 2876 Infektionen bestätigt.
Österreich mahnt zur Einschränkung sozialer Kontakte
Auch Österreich verschärft nach dem ersten Coronavirus-Todesopfer im Land die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des neuartigen Virus erneut. "Wir müssen aufgrund der nach wie vor rasant ansteigenden Kurve an Infektionen konsequente Maßnahmen setzen", sagte Kanzler Sebastian Kurz . Ziel sei es, die sozialen Kontakte spätestens ab Montag auf ein Minimum zu reduzieren, um die Ausbreitung einzudämmen.
Alles, was nicht unbedingt notwendig ist, solle nicht mehr stattfinden, appellierte Kurz an die Bevölkerung. Das gelte für die Familienfeier genauso wie für den sonntäglichen Gottesdienstbesuch, Hochzeiten, Taufen oder andere religiöse Feste.
Ab Montag werden die ersten Schulen zumindest bis Ostern geschlossen. Ab Mittwoch findet landesweit kein Unterricht mehr statt und auch Kindergartenkinder sollen zu Hause bleiben. Auch Besuche in Krankenhäusern wurden untersagt und alle nicht dringenden Operationen sollen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Zudem schottet sich Österreich als Nachbarland zu dem besonders schwer vom Coronavirus betroffenen Italien ab. Es wurde ein Einreiseverbot für Menschen aus Italien beschlossen. Die Grenze darf nur mit einem ärztlichen Attest passiert werden.
In Italien glimmt das öffentliche Leben nur noch
In Italien ist die Zahl der Toten im Zuge der Coronavirus-Krise nach Angaben des Zivilschutzes auf mehr als 1000 gestiegen, die der Infizierten auf mehr als 15.000. Zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat Italien seine Sperrmaßnahmen erneut deutlich verschärft. Seit dem Morgen bleiben die Geschäfte im ganzen Land geschlossen. Es gibt nur wenige Ausnahmen, so dürfen Lebensmittelläden, Apotheken, Tankstellen und Kioske weiter öffnen. Bars und Restaurants müssen ganz dichtmachen. Ziel ist es, dass die 60 Millionen Italiener so weit wie möglich zu Hause bleiben, damit die Übertragung des Virus von Mensch zu Mensch möglichst verhindert wird.
Italien ist nach China das Land mit den meisten gemeldeten Infektionen. Ganz Italien ist mittlerweile Sperrzone. Flug-, Zug- und Schiffsverbindungen mit dem Ausland wurden größtenteils gekappt. An der Grenze zu Österreich bildeten sich wegen verstärkter Kontrollen der Österreicher zeitweise kilometerlange Lkw-Staus am Brenner.
Derweil sieht China laut Gesundheitskommission den Höhepunkt der Coronavirus-Ausbreitung überschritten. Die Zahl neuer Infektionen mit Sars-CoV-2 gehe immer weiter zurück. Tatsächlich hat China in den vergangenen Tagen laut der offiziellen Statistik deutlich weniger Neuinfektionen und Todesfälle gemeldet. Inwieweit die offizielle Statistik die wahre Lage widerspiegelt und wie hoch die Dunkelziffer nicht erfasster Fälle ist, ist unklar. Experten befürchten, dass es spätestens mit der Aufhebung der strikten Abschottungsmaßnahmen zu einem erneuten Anstieg der Fallzahlen kommen wird.
Quelle: ntv.de, jwu/vpe/dpa/rts/AFP