"Völlig inakzeptabel" Merkel rügt Erdogans Flüchtlings-Taktik
02.03.2020, 16:35 Uhr
Die Bundesregierung stellt klar: Die Grenze Europas zur Türkei bleibt zu. Flüchtlinge und Migranten in dem Land sollten nicht auf Erdogan hören. Dessen Umgang mit den Betroffenen kritisiert Kanzlerin Merkel scharf. Eine Situation wie 2015, bekräftigt die Regierung, werde sich jedoch nicht wiederholen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den derzeitigen Umgang der Türkei mit Flüchtlingen und Migranten in ihrem Land scharf kritisiert. Sie verstehe zwar, dass die türkische Regierung von Europa mehr Unterstützung erwarte, sagte sie in Berlin. Es sei aber "völlig inakzeptabel", dass dies "auf dem Rücken der Flüchtlinge" ausgetragen werde. Die Türkei stehe "vor einer sehr großen Aufgabe", sagte Merkel. Doch die Regierung in Ankara müsse ihre "Unzufriedenheit" mit der EU austragen und nicht auf Kosten der Flüchtlinge. Das Thema sei nur zu lösen, indem das EU-Türkei-Abkommen wieder so "hinbekommen" werde, dass es von beiden Seiten "akzeptiert und umgesetzt wird".
Zuvor hatte die Bundesregierung Flüchtlinge und Migranten in der Türkei vor einem Aufbruch Richtung Europa gewarnt. "Wir erleben zurzeit an den Außengrenzen der EU zur Türkei, auf Land und zur See, eine sehr beunruhigende Situation. Wir erleben Flüchtlinge und Migranten, denen von türkischer Seite gesagt wird, der Weg in die EU sei nun offen, und das ist er natürlich nicht", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Auf die Frage, ob der Satz der Kanzlerin weiter gelte, dass sich 2015 nicht wiederholen werde, sagte er: "Der hat seine Gültigkeit."
Nach der von der Türkei verkündeten Öffnung der Grenze zur EU sind griechische Sicherheitskräfte erneut mit Blendgranaten und Tränengas gegen Hunderte Migranten vorgegangen. Diese hatten versucht, die Grenze bei Kastanies zu passieren und nach Griechenland und damit in die EU zu gelangen, wie das griechische Staatsfernsehen (ERT) berichtete. Die europäische Krisendiplomatie läuft angesichts der Entwicklung auf Hochtouren.
Die türkische Erklärung "führt diese Menschen, Männer, Frauen und Kinder, in eine extrem schwierige Lage, und es stellt genauso auch Griechenland vor enorme Herausforderungen", sagte Seibert. Ausdrücklich sprach er von "Flüchtlingen und Migranten" - nicht jeder werde nach der gültigen Definition ein Flüchtling sein.
Vor dem Hintergrund des Syrien-Konflikts und der angespannten Lage an der EU-Außengrenze warnte Außenminister Heiko Maas von der SPD davor, Flüchtlinge zu instrumentalisieren. "Wir dürfen nicht zulassen, dass Flüchtlinge zum Spielball geopolitischer Interessen gemacht werden. Egal wer das versucht, der muss immer mit unserem Widerstand rechnen", sagte Maas in Berlin.
Weber: "kollektiver Angriff auf Grenze"
Der CSU-Europapolitiker Manfred Weber sprach im Deutschlandfunk von "kollektiven Angriffen auf die Grenze". Die Beteiligten könnten nach geltendem Recht kollektiv zurückgeführt werden. "Das wird jetzt in Griechenland auch durchgeführt." Weber sagte weiter: "Es handelt sich nicht um individuelle Menschen, die sagen, ich möchte jetzt in Griechenland Asyl beantragen, sondern es geht um Busse, die von Erdogan bezahlt werden, die an die Grenze gefahren werden, die oft aus bestehenden Flüchtlingslagern kommen."
Am morgigen Dienstag wollen sich die Spitzen der EU ein eigenes Bild vom Geschehen an der Grenze machen. Nach UN-Angaben harren rund 13.000 Migranten bei Kälte auf der türkischen Grenzseite zu Griechenland aus. Viele wollen weiterziehen, etliche nannten im Fernsehen Deutschland als Ziel.
Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis teilte mit, er werde am Dienstag EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, EU-Ratschef Charles Michel und Europaparlamentspräsident David Sassoli an der griechischen Landgrenze zur Türkei treffen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wollte noch heute mit Bundeskanzlerin Angela Merkel telefonieren. Am Abend ist ein Treffen Erdogans mit Bulgariens Regierungschef Boiko Borissow in Ankara geplant.
Die griechischen Sicherheitsbehörden versuchen, eine neue Migrantenbewegung aus der Türkei zu stoppen. In den vergangenen 24 Stunden seien 9877 Menschen daran gehindert worden, aus der Türkei auf dem Landweg nach Griechenland zu kommen, hieß es aus dem Büro von Regierungssprecher Stelios Petsas. Am Grenzübergang von Kastanies am Grenzfluss Evros kam es nach einer ruhigen Nacht am Vormittag erneut zu Ausschreitungen. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex will rasch auf das Hilfeersuchen Griechenlands wegen der Vielzahl von Flüchtlingen aus der Türkei reagieren.
Video von totem Migranten soll "fake news" sein
Einheiten der griechischen Armee führten auf den Inseln im Osten der Ägäis und am Evros Schießübungen durch, wie das Staatsfernsehen unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Athen berichtete. Die Übungen sind aus Sicht von Kommentatoren eine Reaktion Athens auf den Zustrom von Migranten, die am Vortag aus der Türkei zu den Inseln Lesbos, Chios und Samos übergesetzt hatten, und sollen offenbar der Abschreckung dienen.
In sozialen Medien kursierten Videos, die einen angeblich von einem griechischen Soldaten erschossenen Migranten zeigen sollen. Die Regierung in Athen wies die Darstellung zurück. Das Video sei "fake news", twitterte Regierungssprecher Petsas.
Die Türkei hat rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. In einem Flüchtlingspakt mit der EU von 2016 hat die Türkei eigentlich zugesagt, gegen illegale Migration vorzugehen. Im Gegenzug nimmt die EU regulär Syrer aus der Türkei auf. Ankara erhält zudem finanzielle Unterstützung für die Versorgung der Flüchtlinge im Land. Während seit Jahresbeginn täglich etwa 100 Menschen aus der Türkei kamen, setzten am Sonntag nach neuesten Angaben der Küstenwache mehr als 1000 Migranten zu den Inseln über. Heute ertrank in der Ägäis ein Kind, als vor Lesbos ein Schlauchboot mit 48 Migranten unterging.
Quelle: ntv.de, mra/dpa