Ukraine-Talk bei Lanz Militärhistoriker: "Das ist erst das Ende vom Anfang"
28.10.2022, 12:28 Uhr (aktualisiert)
Neitzel hat in Potsdam den einzigen Lehrstuhl für Militärgeschichte in Deutschland inne.
(Foto: picture alliance / dpa)
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel wünscht sich mehr Waffenlieferungen aus Deutschland an die Ukraine. Spielraum für eine diplomatische Lösung mit Russland sieht er derzeit nicht. Der Krieg befinde sich gerade einmal in der ersten Phase, sagt er bei Lanz.
Die "Zeitenwende"-Rede, die Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine gehalten hat, gehört nach Einschätzung des Militärhistorikers Sönke Neitzel zu den besten, die bisher in Deutschland gehalten worden seien. Er vermisse aber die Taten, die auf die Rede folgen müssten. Deutschland liefere immer noch zu wenig Waffen in das Kriegsgebiet, kritisiert er bei Markus Lanz im ZDF. "Gerade was die Munitionsherstellung angeht, hat man den Eindruck, die Regierung habe den Schuss noch nicht gehört." Es gehe zwar langsam in die richtige Richtung, "Aber dieses Land kann mehr."
Einen Teil des Problems sieht Neitzel im Verwaltungsapparat. "Wir sind auf Frieden eingestellt, und unsere Regierung ist ein Verwaltungssystem", so der Militärhistoriker. Seit dem Ende des Kalten Krieges sei zum Beispiel die Zahl der Stellen im Verteidigungsministerium um 40 Prozent gestiegen. Deutschland habe mehr Generäle als im Kalten Krieg, obwohl die Stärke der Truppen deutlich gesunken sei. "Da brauchen wir Minister, die sagen: Ich reformiere das, ich zerschlage das jetzt, und alle mir nach. Wir müssen mehr Druck auf den Kessel geben."
Neitzel ist Historiker mit dem Schwerpunkt Militärgeschichte. Seit 2015 lehrt er am Historischen Institut der Uni Potsdam. Er ist der einzige Professor für Militärgeschichte Deutschlands.
"Deutschland sicherheitspolitisch ein Zwerg"
Der Krieg in der Ukraine befindet sich laut Neitzel am Ende der ersten Phase. "Nach allem, was wir wissen, ist das nicht der Anfang vom Ende, sondern das Ende vom Anfang", zitiert er Winston Churchill. Die Gefahr einer Besetzung der Ukraine durch Russland bestehe nicht mehr. Aber Russland spiele auf Zeit. Die Moral der ukrainischen Armee sei sehr hoch, sagt Neitzel, "aber ich würde mich fragen, ob sie es schafft, die Russen von ihrem Territorium zu verdrängen. Ohne westliche Hilfe geht da jedenfalls gar nichts."
Russland habe ein militärisches Problem: Sie hätten underperformed, sagt Neitzel. Nun müssten sie iranische Kamikaze-Drohnen einsetzen. Das sei ein Zeichen der russischen Schwäche. "Das ist genauso, als wenn die USA ihre Waffen bei Amazon bestellen", spottet der Wissenschaftler. Die Drohnen seien billig, sie funktionierten nicht immer, aber die russische Armee spare Hightech-Material.
Einen Spielraum für Diplomatie sieht Neitzel aktuell nicht. "Und eines muss auch klar sein: Bei Verhandlungen spielt Deutschland sowieso nicht mit." Deutschland sei militärpolitisch ein Zwerg. "Hätte sich die Ukraine auf Deutschland verlassen müssen, dann gäbe es sie jetzt nicht mehr", sagt Neitzel. Vor allem die USA hätten die Ukraine im Krieg unterstützt, darum würden sie später auch den Frieden mitgestalten wollen.
(Dieser Artikel wurde am Mittwoch, 26. Oktober 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de