Reisners Blick auf die Front"Moskau will nächstes Jahr 143 Milliarden Euro in den Krieg investieren"
In den Friedensgesprächen lockten die Russen US-Präsident Trump durch die Aussicht auf Profit, sagt Oberst Reisner. Falls ein Waffenstillstand scheitert, habe der Kreml aber schon andere Pläne in der Schublade. Derweil würden Moskaus Truppen langsam, aber stetig voranschreiten.
ntv.de: US-Präsident Donald Trump spricht von guten Chancen für einen Deal bei den Gesprächen über die Zukunft der Ukraine. Wie ist denn die strategische Lage der Ukraine an der Front?
Markus Reisner: Die Ukraine versucht auf der strategischen Ebene positive Schlagzeilen zu produzieren. Ukrainische unbemannte Drohnen haben in einem spektakulären Manöver Tanker der russischen Schattenflotte angegriffen. Dabei ist von insgesamt drei Tankern die Rede. Einer soll sogar im Atlantik vor Dakar, der Hauptstadt des Senegal, getroffen worden sein, zwei weitere vor der türkischen Küste im Schwarzen Meer. Der Angriff vor Dakar ist aber aus meiner Sicht nicht eindeutig zuordenbar. Hinzu kommt auch ein erfolgreicher Drohnenangriff auf den Hafen der russischen Stadt Noworossiysk. Offensichtlich ist es die Absicht der Ukraine wieder die Initiative ergreifen, da sie gerade an mehreren Fronten in einer ungünstigen Lage ist.
Was unternimmt Russland auf der strategischen Ebene?
Am Samstag gab es einen neuerlichen schweren russischen Luftangriff. Es war die fünfte Attacke dieser Größenordnung im November. Russland griff am Samstag mit 632 Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen an. Und Moskau will den Druck weiter erhöhen. Außerdem hat sich der Kreml vorgenommen, für das kommende Jahr 166 Milliarden Dollar, umgerechnet knapp 143 Milliarden Euro, in den Angriffskrieg zu investieren. Das ist ein Drittel der Gesamtausgaben des Landes und das höchste Militärbudget Russlands seit den Tagen der Sowjetunion. Russland ist also bereit, diesen Krieg weiterzuführen, wenn es nicht zu einer Einigung kommt.
Werden die Gespräche denn scheitern?
Trump will eine Einigung erreichen, auf Kosten der Ukraine. Es scheint so, als ob die Vereinigten Staaten bereit sind, die Kontrolle Russlands über die Krim und andere besetzte ukrainische Gebiete anzuerkennen, um ein Abkommen zu erreichen. Es soll konkrete Absprachen zwischen den Russen und den Amerikanern geben, vorbei an den Europäern und den Ukrainern. Trump geht es um den eigenen wirtschaftlichen Nutzen, um russisch-amerikanische Projekte für den Wiederaufbau und Zugriff auf Ressourcen wie das eingefrorene russische Zentralbank-Vermögen in Belgien.
Die Ukraine stimmt den Plänen jedenfalls bislang nicht zu. Warum?
Die Ukraine möchte als ein souveräner Staat bestehen bleiben. Die Ukraine möchte auch entscheiden können über einen möglichen Nato- oder EU-Beitritt. Sie möchte kein Territorium abgeben, das Russland noch gar nicht erobert hat, vor allem nicht im Donbass. Sie möchte die Truppenstärke ihrer Streitkräfte selbst bestimmen können und weitreichende Waffen besitzen. Und sie möchte Sicherheitsgarantien, vorrangig von den USA. Das alles steht höchstwahrscheinlich im Widerspruch zu dem, was die USA mit Russland vorhaben.
In ukrainischen Verhandlungskreisen ist von "nicht einfachen" Verhandlungen die Rede gewesen. Kompliziert sind demnach insbesondere Formulierungen "in Bezug auf Gebiete". Geht es dabei vor allem um den Donbass?
Das ist eine Mutmaßung, aber stellen wir uns vor, die Ukraine hätte bereits versucht, die USA einzukaufen. Ein Angebot könnte gewesen sein, den Vereinigten Staaten Rechte zur Ausbeutung von Bodenschätzen im Donbass einzuräumen, falls sich diese Gebiete unter ukrainischer Kontrolle befinden. Die Russen könnten jetzt das Gleiche versuchen - und der US-Regierung sagen: Wir haben diese Gebiete größtenteils erobert und werden gemeinsam mit euch die Bodenschätze dort ausbeuten. Das wird bei den Gesprächen zumindest im Hintergrund mitschwingen. Die Ukraine könnte leer ausgehen, wenn sie keinerlei Kontrolle mehr über die relevanten Gebiete hat, weil der gesamte Donbass den Russen zugeschlagen wird.
Ist ein weiterer Knackpunkt die Aufgabe der ukrainischen Verteidigungslinien im Donbass?
Laut dem letzten US-Entwurf des 28-Punkte-Plans dürfen russische Truppen nicht bis zur Grenze des Donbass vormarschieren, aber die ukrainischen müssen sich zurückziehen. Das heißt, es gäbe eine demilitarisierte Zone, die überwacht wird, von wem auch immer. Truppen aus den Ländern des globalen Südens könnten eingesetzt werden, etwa aus Indien oder China. Den Einsatz von Nato-Truppen lehnt Russland ab.
Nun beharrt die Ukraine auf Schutz durch die Nato und westliche Truppen. Doch auch dieses Schutzversprechen wäre fragil, oder?
Das ist der Grund, warum die Ukraine darauf besteht, starke eigene Streitkräfte zu haben, die zumindest in einem gewissen Maße abschreckungsfähig sind. Für ein Mindestmaß an Abschreckung müssen diese Streitkräfte nicht unbedingt nuklear bewaffnet sein. Aber sie müssen so stark sein, dass den Verantwortlichen in Moskau klar ist: Wenn Russland erneut angreifen würde, müsste es sich wieder in diesen elenden, langsamen Kampf verstricken lassen mit hunderttausenden Toten.
Die Ukrainer selbst könnten dann mehr erreichen als verbündete Truppen aus Europa?
Ohne die USA ist die Nato nur eingeschränkt handlungsfähig. Im vierten Jahr des Krieges sind die Europäer noch immer nicht bereit, sich einzugestehen, dass man ernsthaft etwas tun müsste, um nicht nur als Wirtschaftsraum relevant zu sein, sondern auch als sicherheitspolitischer Akteur. In den Verhandlungen müssen die Europäer darum betteln, gehört zu werden. Sie haben einen Plan auf den Tisch gelegt als Gegenvorschlag, der nicht einmal besprochen wird. Die schwache Position Europas gefährdet eine nachhaltige Lösung, die verhindert, dass wir in den nächsten Konflikt hineintreiben.
Wird die Ukraine denn jetzt einknicken?
Der fünfte schwere russische Luftangriff in diesem Monat hatte jedenfalls enorme Auswirkungen. Gestern gab es Bilder von Kiew im Dunkeln. Zudem macht der Mangel an Soldaten sich an der Front immer stärker bemerkbar. Das heißt, die Ukraine verteidigt oft nicht mehr, sie verzögert nur noch den Vormarsch der Russen. Dazu kommen Korruptionsskandale in den Kreisen um den ukrainischen Präsidenten. Das alles führt zu einer Grundstimmung, die sich immer mehr gegen die Ukraine wendet.
Welche Gebiete sind momentan am heftigsten umkämpft?
Die russische Winteroffensive ist in vollem Gange. Das Schwergewicht liegt weiter im Raum Pokrowsk. Südlich von Pokrowsk haben die Russen es geschafft, in Richtung Saporischschja auf 35 Kilometer Breite bis zu 15 Kilometer in die Tiefe vorzustoßen. Hier, im sogenannten Südabschnitt haben russische Truppen Huljajpole und Dobropillia im Zangengriff.
Im Nordabschnitt, bei Sumy und Charkiw, sind den Russen bei Woltschansk kleinere Gewinne gelungen. Im Mittelabschnitt ist Kupjansk heftig umkämpft und nahezu eingenommen. Zudem ist Siwersk äußerst exponiert und von beiden Seiten nahezu umschlossen. Die Stadt könnte als nächste fallen. Und Siwersk spielt eine wichtige Rolle: Sie ist der Angelpunkt im Mittelabschnitt zwischen dem Nord- und dem Südbereich der Front.
Mit Markus Reisner sprach Lea Verstl
