Munition für Putsch in Bolivien Nachbarländer stützten Morales' Absetzung
10.07.2021, 19:24 Uhr
Eine Frau in La Paz trauert im November 2019 um ein Todesopfer.
(Foto: REUTERS)
Mehr als eineinhalb Jahre nach der Absetzung von Boliviens linkem Präsidenten Evo Morales wird deutlich: Mindestens zwei Nachbarländer haben die blutigen Niederschlagungen der Demonstrationen seiner Anhänger unterstützt. Argentiniens Präsident schämt sich.
Es ist der 12. November 2019, 23.40 Uhr. Vor einigen Stunden ist die neue bolivianische Staatschefin Jeanine Añez umringt von Anhängern und Militärs mit einer Bibel in den Händen in den Präsidentenpalast eingezogen. In Buenos Aires hebt sich ein militärisches Frachtflugzeug in den Nachthimmel. An Bord sind Nationalgardisten, geladen sind laut internem Bericht 40.000 Kartuschen mit Hartgummigeschossen sowie Tränengas. Ziel ist die bolivianische Metropole La Paz.
In den Anden warten die bolivianische Polizei und das Militär ungeduldig auf Lieferungen. Seit Wochen schon gibt es schwere soziale Unruhen, sie brauchen Munition. Schon zwei Tage nach der Lieferung aus Buenos Aires, am 15. November, kommt es zum "Massaker von Sacaba", und am 17. November zum "Massaker von Senkate". Beide Male gehen die Unterstützer des abgesetzten Morales auf die Straße. Beide Male schlagen Polizei und Militär die Proteste blutig nieder. Trotzdem hören sie nicht auf. Mehr als 30 Menschen sterben.
Die Munitionslieferungen nach der De-facto-Absetzung des langjährigen Präsidenten Evo Morales blieben lange geheim. Inzwischen sitzt die konservative Añez in Haft, ihre Regierung ist versprengt und die militärische Führung ist auf der Flucht. Ihr linker Nachfolger Luis Arce lässt den Machtwechsel untersuchen. Oder, wie die politischen Lager abseits der Konservativen sagen: den Staatsstreich mit Hilfe des Militärs. Dem soll neben Argentinien auch Ecuador Hilfe geschickt haben, mit der Polizei und Armee danach Demonstrationen blutig niederschlugen. Morales warf zudem dem brasilianischen Botschafter in Bolivien bereits im vergangenen Jahr vor, an den Planungsrunden der Opposition teilgenommen zu haben.
Es ist unklar, wer die internationale Militärhilfe koordinierte und warum die entsprechenden Flüge und ihre Dokumente in bolivianischen Ministerien unauffindbar sind. Die aktuelle linke Regierung geht von Vertuschung aus. Morales war nach wochenlangen Demonstrationen, einer umstrittenen Wahl und ausufernder Gewalt gegen Regierungsmitglieder vom eigenen Militär zum Rücktritt gezwungen worden. Die Opposition sagt, sie habe die Demokratie schützen wollen.
"Schmerz und Scham" in Buenos Aires
Auch von einem Brief aus dem argentinischen Präsidentenpalast ins benachbarte Bolivien werden die hitzigen Diskussionen in der Region derzeit wieder befeuert. Alberto Fernández schreibt in dem offiziellen Schreiben von "Schmerz und Scham", weil sein Amtsvorgänger Mauricio Macri einen Staatsstreich gegen Morales unterstützt habe. Fernández selbst habe ein gutes Gewissen, weil er Morales' und viele andere Leben gegen "die Belagerung der Putschisten" geschützt habe. Morales hatte zuerst in Mexiko, dann in Argentinien Zuflucht gesucht. Inzwischen ist er wieder in Bolivien.
Die historische Aufladung der militärischen Zusammenarbeit ist kaum zu unterschätzen. Über Jahrzehnte regierten in Südamerika verschiedene rechte Militärdiktaturen, die Geheimdienste kooperierten mit Hilfe des US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA unter dem Namen "Plan Cóndor" miteinander. Insbesondere in Argentinien löste Morales' Absetzung heftige Reaktionen aus. Dort allein waren Zehntausende Menschen verschwunden oder getötet worden, auf offener Straße entführt, in Geheimgefängnisse gesperrt und gefoltert. Manche wurden unter Drogen gesetzt und wurden tot oder lebendig aus Hubschraubern ins Meer geworfen.
Aber das ist lange her, die letzte Diktatur Argentiniens endete im Jahr 1983. Über viele Jahre hinweg war der Eindruck entstanden, auch in Südamerika sei die Zeit der gewaltsamen Umstürze vorbei, die Demokratien hätten sich gefestigt. Als Morales im Jahr 2006 als erster indigener Staatschef des Kontinents gewählt wurde und dem Land über viele Jahre ein stabiles Wirtschaftswachstum bescherte, schien auch in Bolivien eine andere Ära angebrochen. Doch der ehemalige Gewerkschaftler gewöhnte sich zu sehr an die Macht, trat ein umstrittenes drittes Mal an, und mit konstruierten Begründungen 2019 sogar ein viertes Mal.
Ex-Außenminister weiß von nichts
Auch der damaligen argentinischen Regierung war offenbar bewusst, dass die Munitionslieferung mit Añez' Amtsantritt problematisch war. Der neue argentinische Botschafter suchte auf Bitte von Boliviens Präsident Arce in seiner diplomatischen Vertretung nach möglichen Dokumenten zu den blutigen Niederschlagungen. Er fand die Empfangsbestätigung des bolivianischen Militärs für die Munition; nicht korrekt archiviert, sondern "versteckt", wie es heißt. Der damalige argentinische Außenminister behauptet, er wisse von nichts.

Panzer, Tränengas und Särge: Demonstranten tragen Todesopfer durch die Straßen von La Paz.
(Foto: REUTERS)
Es spricht viel dafür, dass der Machtwechsel ein Staatsstreich war. Laut einer Recherche der "New York Times" war das Wahlergebnis zwar äußerst knapp, aber die Vorwürfe der Organisation amerikanischer Staaten (OAS) über angeblich entscheidende Unregelmäßigkeiten haltlos. Das US-Medium korrigierte sich damit über ein halbes Jahr nach Morales' Absetzung ein Stück weit auch selbst. Die OAS hatte die Annullierung der Ergebnisse empfohlen, weshalb Morales kurz vor seiner Absetzung wie gefordert eine Neuwahl ansetzte. Aber da war es schon zu spät. Die Opposition hatte die Polizei auf ihrer Seite und auch das Militär.
Das Vertrauen in die Institutionen wird das weiter schwächen. Ohnehin betrachten vor allem die nichtkonservativen Kräfte in Südamerika die OAS mit Sitz in New York City skeptisch. Das hängt auch mit ihrem Vorsitzenden Luis Almagro zusammen. Dem wird immer wieder Parteilichkeit sowie zu große Nähe zu den USA vorgeworfen.
Argentiniens Präsident Fernández entschuldigte sich in seinem Brief für die Munitionslieferung. Er kündigte an, dass die Interamerikanische Menschrechtskommission CIDH den Vorgang untersucht. Die ist zwar Teil der OAS, gilt aber als unabhängig.
Quelle: ntv.de