Politik

Experte Neitzel zur Bundeswehr "Pistorius versucht gerade alles, um nicht messbar zu sein"

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Eine umfassende Strukturreform der Bundeswehr will Verteidigungsminister Pistorius derzeit nicht angehen.

Eine umfassende Strukturreform der Bundeswehr will Verteidigungsminister Pistorius derzeit nicht angehen.

(Foto: IMAGO/Panama Pictures)

Die Meldung über Funkgeräte, die bestellt worden sein sollen ohne zu bedenken, wie sie in Fahrzeuge der Bundeswehr integriert werden können, bestätigt das Klischee: Vor lauter Bürokratie herrscht Chaos in der Truppe. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel sieht keine Chance auf Besserung, solange der Mut für eine große Reform fehlt.

ntv.de: Herr Neitzel, der Bundeswehr wurde in den vergangenen Monaten Reformwillen attestiert. Tut sich tatsächlich etwas oder versandet die Initiative?

Sönke Neitzel: Ich glaube, dass da schon etwas passiert. Das Beschaffungsbeschleunigungsgesetz hilft etwas, die Inspekteure sind besser eingebunden, aber letztlich doktern wir am Prozess herum und hoffen, dass mit mehr Geld alles gut wird. Ich nehme nicht wahr, dass wir groß genug denken.

Wie groß müssten wir denn denken?

Nötig wäre eine echte Strukturreform. Ich habe den Verteidigungsminister Boris Pistorius in der vergangenen Woche danach gefragt, und die Antwort erhalten, dass sich an der Struktur nichts Grundlegendes ändern wird. Die Reform fällt aus.

Professor Sönke Neitzel lehrt Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam.

Professor Sönke Neitzel lehrt Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam.

Gegen eine umfassende Reform spricht aus Sicht vieler, dass man den ganzen Apparat damit ein Stück weit lahmlegen würde. Bei einem "Schiff, das in Fahrt ist", ein schwieriges Unterfangen.

Ich halte das Argument für nicht glaubwürdig, ich halte es für zu schwach. Die Bundeswehr ist immer "in Fahrt". Frage ist: Was ist der Referenzpunkt? Das ist die Kampffähigkeit der Truppe in fünf, sieben, acht Jahren. Dass sie jetzt kämpfen muss, ist höchst unwahrscheinlich. Aber in fünf, sieben, acht Jahren womöglich. Wollen wir dann die Bundeswehr reorganisieren? Wenn es so weit ist?

Gibt es weitere Referenzen?

Der Bundesnachrichtendienst hat sich völlig neu aufgestellt. Die Ukraine hat sich fünf Mal umgegliedert. An sich kann man das. Aber Boris Pistorius sagt, wir müssen uns am Machbaren orientieren. Wenn man sich am Machbaren orientiert hätte, hätte es nie einen NATO-Doppelbeschluss gegeben. Keine Agenda 2010, keine Ostpolitik, niemals den Euro, nie ein Schengen-Abkommen.

Hier würden Sie die Strukturreform der Bundeswehr mit einreihen?

Es geht um nicht weniger als die Neugründung der Streitkräfte. Und diese Neugründung wird, wenn man Gas gibt, 10 bis 15 Jahre dauern. Man kann nicht von Boris Pistorius und dem Generalinspekteur erwarten, dass in zwei Jahren alles funktioniert. Das ist auch nicht unser Anspruch. Wir werden auf Lücke weiterarbeiten müssen. Und Militär muss immer mit Lücke umgehen. Die Frage ist: Werden jetzt Entscheidungen mit großer Fallhöhe getroffen, die aber dazu führen, dass wir in fünf Jahren, in acht Jahren wirklich drei einsatzbereite Divisionen haben, Geschwader und Schiffe?

Dafür braucht die Bundeswehr auch viele Soldaten. Bis 2031 soll sie ihr Personal auf 203.000 aufstocken, derzeit liegt sie bei 183.000. Sie sagen jetzt schon, dass das nicht zu schaffen ist. Was macht Sie so sicher?

Die Lage ist ja noch viel schlimmer. 203.000 ist nicht zu erreichen. Und selbst das Halten von 180.000 ist völlig unrealistisch, wenn man mit Leuten aus dem Apparat redet. Die Größen der Kohorten gehen einfach nach unten.

Sie meinen, die Jahrgänge werden kleiner, es stehen weniger junge Leute zur Verfügung?

Genau. Und wir haben eben nur eine bestimmte Quote, die man realistischerweise für die Bundeswehr begeistern kann. Intern wird so gerechnet: Wenn Deutschland nicht ein soziales Dienstjahr einführt, die Wehrpflicht, oder irgendeine andere grundlegende Änderung bei der Personalrekrutierung, dann wird die Bundeswehr in zehn Jahren vielleicht nur noch 150.000 Leute umfassen. Zumal man jetzt auch mit den 180.000 schummelt.

Inwiefern?

Generäle und hohe Offiziere, die bis zu ihrem 65. Lebensjahr dienen, sind oft in ihren letzten Verwendungen gar nicht mehr sinnvoll einzusetzen. Wie viele überzählige Offiziere hat die Truppe, die sie irgendwo hinsteckt, weil man sie in den letzten fünf Jahren nicht mehr sinnvoll verwenden kann?

Das heißt, die Zahl der effizient eingesetzten Soldatinnen und Soldaten derzeit liegt unter diesen 183.000?

Man behält das hohe Dienstzeitalter bei, damit die Zahlen nicht noch stärker sinken, ja. Das Grundproblem in der Debatte ist, dass wir nicht ehrlich kommunizieren. Wir beschäftigen uns immer noch mit Spiegelfechten, reden über die Zahl 203.000, von der jeder weiß: "No way. Das ist nicht zu erreichen."

Was wäre ehrlich? Und realistisch?

Das Ziel muss sein, die 180.000 zu halten, sinnvoll eingesetzt mit qualifizierten Leuten. Dafür muss aber ganz Grundlegendes passieren. Diese Debatte wird nicht in der nötigen Schärfe geführt.

Verteidigungsminister Boris Pistorius hat Anfang Juni gesagt, vielleicht müsse man die Zahl 203.000 auch mal überprüfen. Er wage keine Prognose, "ob wir die Zahl erreichen können".

Der Minister oder auch der Generalinspekteur müsste sich aber hinstellen und sagen: "Wir allein können das gar nicht leisten. Wir können Social Media-Kampagnen machen und dergleichen. Aber das wird nicht ausreichen. Nicht mal, um den Personalbestand auch nur zu halten." Es muss sich Grundlegendes ändern, und das ist eine politische Entscheidung. Der Generalinspekteur könnte sagen: "Unser Vorschlag ist A, B und C, aber Ihr, als Bundesregierung, müsst entscheiden." Diesen Druck gibt es nicht.

Heißt das, die Bundeswehr selbst kann gar nichts machen? Weil das nur Frickelei an den Symptomen wäre?

Doch, denn wenn die Politik eine so große Entscheidung fällen würde wie etwa ein Pflichtjahr mit entsprechenden Folgen für die Bundeswehr, die vielleicht sogar einen Aufwuchs bedeuten würden, dann müsste die Truppe sich intern auch reformieren. Das Personalwesen der Bundeswehr ist zentralisiert und völlig mit Bürokratie überfrachtet. Ich sehe aber nicht, dass Pistorius und der Generalinspekteur sich hinstellen und sagen: "Zum Personal kommt hier unser Reformvorschlag: Erstens, zweitens, drittens." Und solange dieser Druck nicht aufgebaut wird, sieht das Kabinett auch keine Notwendigkeit, diese unangenehme Frage eines möglichen Pflichtjahres anzugehen.

Ist das ein Muster bei der Truppe?

Das können Sie auf alle großen Problembereiche der Armee übertragen, ob Personal, Mindset, Rüstung oder Strukturen. Wenn ich aber nicht tapfer bin als Generalinspekteur, wenn ich mich nicht traue, in der Öffentlichkeit Ansagen zu machen, wie sollen dann Soldaten in Litauen ihr Leben im Kampf riskieren? Das geht nicht.

Sie sagen, die Analyse ist getan und es gibt Lösungsmöglichkeiten A, B, C. Sind diese möglichen Lösungen alle mit einer Pflicht verbunden?

Es gibt auch die skandinavische Lösung zu sagen, wir mustern einfach wieder. Dank der Musterung wissen wir, wer überhaupt da ist, wer von diesen Leuten für uns interessant wäre, und wir sind bereits in Kontakt. Um diese Personen können wir uns dann gezielt bemühen: "Aufgrund der Musterung wärt Ihr geeignet. Könnt Ihr Euch das vorstellen?" So machen es die Skandinavier. Es gibt verschiedenste Modelle, man kann die Reservisten massiv verstärken, bis zum sozialen Jahr oder der Wiedereinsetzung der Wehrpflicht. Letztlich müssen wir fair sein und Boris Pistorius am Ergebnis messen.

Ob er die Bundeswehr auch ohne Strukturreform nach vorne bringt?

Wenn er es schafft, wunderbar. Ich glaube aber, Pistorius tut gerade alles, um nicht messbar zu sein, um es möglichst diffus zu machen. Das ist für mich aber kein Anspruch, den ein Minister haben sollte. Als Minister muss man sagen, es geht nicht um das eigene Amt, es geht nicht um die eigene Person, es geht ums Ganze. Man muss die Dinge auf das Gleis setzen. Diesen Mut vermisse ich.

Mit Sönke Neitzel sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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