False-Flag-Aktion in Planung? "Schmutzige Bombe" könnte Russland helfen
03.11.2022, 11:29 Uhr
Nicht mit den Auswirkungen von Tschernobyl vergleichbar, aber dennoch würde eine "schmutzige Bombe" zu "lokaler Verseuchung" führen.
(Foto: REUTERS)
Die Ukraine wolle eine "schmutzige Bombe" einsetzen, um im Kampf gegen Russland eine Eskalation zu provozieren, behauptet der Kreml. Militärexperten sind sich jedoch einig, dass es in Wahrheit andersherum ist. Denn Russland könnte mit einer "dirty bomb" mehrere Probleme gleichzeitig lösen.
Weil es auf dem Schlachtfeld nicht so klappt, wie es sich Russland wünscht, versucht es der Kreml mit anderen Mitteln. Dazu gehören seit Kriegsbeginn auch völlig haltlose Vorwürfe, die Russlands Eskalation im Nachbarland begründen sollen. Nazis, die angeblich die Ukraine regieren. Oder Biowaffen, die die Ukrainer gemeinsam mit den USA in geheimen Laboren entwickeln. Jetzt plant die Ukraine angeblich, eine "schmutzige Bombe" einzusetzen. Das hat Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu in Telefonaten mit seinen Amtskollegen aus den USA, Großbritannien, Frankreich und der Türkei zuletzt behauptet. Dem russischen Militär bliebe dann nur eine Möglichkeit: Ein Atomschlag zur Verteidigung, hat Schoigu gedroht.
"Ich glaube, es geht hier zunächst einmal darum, Verwirrung und Chaos zu stiften", sagt Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität München im "Stern"-Podcast "Ukraine - die Lage". Der Militärexperte nennt verschiedene mögliche Gründe, die hinter den Aussagen zur "Schmutzigen Bombe" stecken. Es könne auch sein, dass Russland eine "False-Flag-Aktion" plant, die man der Ukraine in die Schuhe schiebt, "um dann aus russischer Sicht diesen Krieg legal nochmal eskalieren zu lassen".
"Gewisser Grad an lokaler Verseuchung"
Bei einer schmutzigen Bombe wird dem normalen Sprengstoff radioaktives Material beigemischt. Das kann alles sein, was strahlt: Atommüll, Reste einer Kernwaffe oder auch leicht radioaktives Material, das normalerweise im Krankenhaus eingesetzt wird. Eine "dirty bomb" hat eine viel geringere Sprengkraft als eine Atombombe. Anders als bei einer Nuklearwaffe gibt es bei der Explosion keine Kernspaltung. Das strahlende Material ist in diesem Fall "nur" Beiwerk.
Wie viel Schaden eine "schmutzige Bombe" genau anrichtet, hängt von vielen Faktoren ab. Wie viel radioaktives Material wird dem konventionellen Sprengstoff beigemischt? Wie ist das Wetter zum Zeitpunkt der Zündung? Wo detoniert die Bombe? Die möglichen Folgen einer solchen Explosion seien schwer abschätzbar, sagt Experte Masala, der aber davor warnt, diese zu unterschätzen. "Es wäre ein gewisser Grad an lokaler Verseuchung. Die Bevölkerung würde den aufgewirbelten radioaktiven Staub in der verstrahlten Region einatmen, die Krebsgefahr würde sich erhöhen. Wenn es regnet, würde der Staub gebunden, bliebe lange an Gebäuden und auf Straßen haften."
Die exakten Schäden durch eine "schmutzige Bombe" sind allerdings auch deshalb schwer einzuschätzen, weil sie in der Weltgeschichte noch nie erfolgreich eingesetzt wurde. Mit einer Atombombe sei eine "dirty bomb" in jedem Fall aber nicht zu vergleichen, erklärt Scott Roecker von der Nuclear Threat Initiative, einer gemeinnützigen Organisation aus den USA. Und auf dem Schlachtfeld habe eine solche Waffe ohnehin keinen größeren Nutzen, sagt der Atomexperte. "Es handelt sich eher um psychologische Waffen. Wenn man Menschen einschüchtern will, setzt man solch eine Waffe ein. Da es sich um eine relativ kleine Explosion handelt, würde sich die Strahlung vielleicht über mehrere Häuserblocks verteilen, aber nicht über ein sehr großes Gebiet. Auf dem Schlachtfeld hat die Bombe, wenn überhaupt, nur einen sehr begrenzten Nutzen."
"German Angst" im Fokus Putins
In der Weltgeschichte wurden zweimal Atombomben abgeworfen, beide Male von den USA. Im Zweiten Weltkrieg, im August 1945, auf die japanischen Großstädte Nagasaki und Hiroshima.
Der Kreml könnte mit seinen Vorwürfen den dritten Einsatz provozieren: Zündet Moskau eine "schmutzige Bombe" und schiebt die Tat den Ukrainern zu, würde aus russischer Sicht die Hemmschwelle für einen Atomwaffeneinsatz sinken und die Welt einem Atomkrieg nähergebracht. Militärexperte Masala bringt eine noch niedrigschwelligere Eskalationsmöglichkeit ins Gespräch. "Möglicherweise wäre das für die Russische Föderation ein guter Vorwand, um den Staudamm zu sprengen und Cherson zu überfluten."
Sollte Russland tatsächlich der Ukraine den Einsatz einer schmutzigen Bombe in die Schuhe schieben, würde das aus russischer Sicht mehrere Probleme auf einmal lösen: Russland wäre in erster Linie nicht länger Aggressor, sondern Opfer. Moskau könnte Kiew in der Folge ein Ultimatum stellen, um einen Waffenstillstand nach Russlands Bedingungen zu akzeptieren. Andernfalls droht man mit dem Einsatz einer Atomwaffe, um "Vergeltung" zu üben.
Aus russischer Sicht ist das womöglich das einzige Mittel, um den Krieg für eine Zeitlang einzufrieren und die in Trümmern liegende Armee zu stabilisieren. Möglich ist auch, dass Russland davon ausgeht, dass der Westen im Falle einer verstärkten Atomdrohkulisse von der Unterstützung der Ukraine abrückt. Vor allem mit der "German Angst" spielt Präsident Putin schon seit geraumer Zeit, teils erfolgreich, weiß Carlo Masala. "Es wäre sozusagen das unterschwellige Signal der Russischen Föderation, dass man durchaus bereit ist, das nukleare Tabu zu brechen. Dann hätten wir in der Tat eine neue Situation."
"Eskalation mit konventionellen Waffen"
Russland könnte darauf spekulieren, dass der Westen aus Angst vor einer nuklearen Eskalation aufhört, die Ukraine zu unterstützen. Das Manöver der Russen sei dafür aber "zu durchsichtig", schreibt der US-Politikwissenschaftler Tom Nichols in einer Analyse für den "Atlantic".
Carlo Masala sieht das etwas anders. Der Westen müsste auch bei offensichtlichen False-Flag-Aktionen aufwändig und lange nach Beweisen suchen. "Denken Sie an MH70, das abgeschossene Flugzeug, wo ja bis heute viele Menschen aufgrund der russischen Propaganda glauben, dass das nicht von Russland abgeschossen wurde. Es würde dem Westen schwer machen, zu reagieren. Es würde Zeit ins Land gehen, bis man reagieren könnte, weil man erstmal harte Beweise braucht."
Eine Reaktion des Westens wäre mindestens verzögert, erwartet Masala. Diese würde wahrscheinlich mit konventionellen Waffen erfolgen, so der Politikprofessor. "Das ist die Linie, die die USA und die NATO wohl generell im Sinn haben, falls Russland nuklear eskaliert."
Vielleicht ist es Putin aber auch egal, wie der Westen reagiert und er will eine mögliche False-Flag-Aktion ohnehin eher dafür nutzen, seine Macht im eigenen Land zu stärken. Wahrscheinlich geht es Putin nur darum, dass genügend Russen ihm glauben, vermutet Russland-Experte Tom Nichols im "Atlantic". Aber auch dieser Plan birgt Risiken: Er könnte dafür sorgen, dass in Russland die Angst vor einem Atomkrieg größer wird. Das würde Putin schaden und seine False-Flag-Aktion zum Bumerang machen.
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Quelle: ntv.de