Kreml will Organisation auflösen Prozess gegen Memorial beginnt in Moskau
25.11.2021, 19:49 Uhr
Mehr als 200 Menschen versammelten sich am Vormittag als Zeichen der Solidarität vor dem obersten Gerichtshof. Viele trugen Masken mit der Aufschrift "Memorial kann nicht verboten werden".
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
Die russische Organisation Memorial setzt sich für Menschenrechte und die Aufarbeitung kommunistischen Terrors ein. Nun beginnt am Obersten Gerichtshof in Moskau ein Prozess, der zur Auflösung des Netzwerks führen könnte. Sowohl in Russland als auch international wird deshalb Kritik laut.
Unter großer internationaler Anteilnahme hat in Moskau der viel kritisierte Prozess gegen die russische Menschenrechtsorganisation Memorial begonnen. Bei der Verhandlung vor dem Obersten Gericht des Landes waren auch mehrere ausländische Diplomaten anwesend. So verfolgten etwa Vertreter aus den USA, Großbritannien und Frankreich den Prozess vor Ort. Der Prozess gegen die Organisation, der ein Verbot droht, soll Mitte Dezember fortgesetzt werden.
Unterstützer von Memorial haben das Netzwerk gegen die Vorwürfe der Behörden verteidigt. "Wir werden weiter dafür kämpfen, dass eine Organisation, die sich seit 30 Jahren für die Menschen einsetzt, nicht aufgrund unbegründeter Formalitäten geschlossen wird", sagte eine der Mitbegründerinnen, Jelena Schemkowa, vor dem Obersten Gerichtshof in Moskau. Die Staatsanwaltschaft warf Memorial vor, "systematisch" gegen das Gesetz über "ausländische Agenten" zu verstoßen.
Memorial bestreitet Vorwürfe
Die Organisation hat bei den russischen Behörden seit 2016 den Status eines "ausländischen Agenten". Dies erschwert ihre Arbeit, da sie beispielsweise ihre Finanzierungsquellen offenlegen sowie alle Publikationen mit einem Hinweis versehen muss. Vor dem Obersten Gerichtshof in Moskau beschuldigte die Staatsanwaltschaft Memorial, bewusst auf diesen Hinweis zu verzichten, um ihren Status zu vertuschen. Die Anwälte und Gründer von Memorial wiesen dies zurück.
Memorial besteht aus einem Netzwerk lokal registrierter Organisationen. Die Staatsanwaltschaft hat die Auflösung des Dachverbandes Memorial International beantragt, der die Arbeit der regionalen Einheiten koordiniert. Dann hätte die Gruppe keine Rechtsgrundlage mehr für die Einstellung von Mitarbeitern, den Empfang von Geldern oder die Lagerung ihrer Archive, so einer der Leiter von Memorial International, Oleg Orlow.
Vor einem Moskauer Gericht läuft außerdem ein ähnlicher Prozess gegen das Menschenrechtszentrums von Memorial in der Hauptstadt. Dort werden unter anderem politischen Gefangenen, Migranten und sexuellen Minderheiten unterstützt. Dem Zentrum werden ebenfalls Verstöße gegen das Gesetz über "ausländische Agenten" sowie Verherrlichung von "Extremismus und Terrorismus" vorgeworfen, weil es eine Liste inhaftierter Mitglieder verbotener politischer oder religiöser Bewegungen veröffentlicht hatte.
Proteste vor dem Obersten Gerichtshof
Mit den Gerichtsverfahren gegen Memorial erhöht die russische Justiz weiter den Druck auf die Opposition. Zahlreiche Aktivisten waren zuletzt aus Russland geflohen. Der prominente Kreml-Kritiker Alexej Nawalny sitzt in Haft, viele der von ihm gegründeten Organisationen mussten die Arbeit einstellen. Wie Memorial-Gründungsmitglied Irina Schtscherbakowa vor der Anhörung sagte, will die russische Regierung mit dem Verfahren eine Botschaft senden: "Wir machen mit der Zivilgesellschaft hier, was wir wollen."
Memorial hatte mit der Dokumentation stalinistischer Hinrichtungen und der Geschichte des Gulag-Systems begonnen, bevor das Netzwerk seine Aktivitäten auf den Schutz von Menschenrechten und politischen Gefangenen ausweitete. Ein Verbot der 1989 von sowjetischen Dissidenten, darunter dem Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, gegründeten Organisation wäre ein schwerer Schlag für die Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Als Zeichen der Solidarität versammelten sich am Morgen über 200 Menschen vor dem Obersten Gerichtshof. Einige von ihnen trugen eine schwarze Maske mit der Aufschrift "Memorial kann nicht verboten werden".
Internationale Kritik
"Mit ihrer Forschungs- und Aufklärungsarbeit haben die Mitarbeiter von Memorial Herausragendes in der europäische Erinnerungskultur geschaffen", erklärte auch die Internationale Assoziation der Verbände ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus. "Wir protestieren gegen diesen Angriff auf Memorial."
Kritik kam auch aus Deutschland, etwa von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Die Präsidenten der baltischen Staaten und Polens verurteilten das Vorgehen der russischen Justiz in einer gemeinsamen Erklärung. Alar Karis (Estland), Egils Levits (Lettland), Gitanas Nauseda (Litauen) und Andrzej Duda (Polen) brachten in dem Schreiben "Besorgnis über den historischen Revisionismus in Russland und insbesondere die mögliche Schließung von Memorial" zum Ausdruck.
Quelle: ntv.de, mbu/AFP/dpa