Politik

Politologin im Interview "Putin kann den Russen alles Mögliche verkaufen"

290818997.jpg

Putin kann die Krim gar nicht wieder hergeben, meint die britische Politologin Aglaya Snetkov.

(Foto: picture alliance/dpa/TASS)

In Deutschland steht Bundeskanzler Scholz in der Kritik, der Ukraine zu zögerlich zu helfen. Währenddessen verspricht Selenskyj, die Krim zurückzuerobern. Die britische Politologin Snetkov vom Londoner University College zeigt Verständnis für beide.

ntv.de: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagt nun, er wolle die gesamte Ukraine zurückerobern - während die Russen jeden Tag weiter vorrücken. Hat er den Kontakt mit der Realität verloren?

Aglaya Snetkov: Das ist, was seine Unterstützer möchten. Das ist an sie gerichtet. Er hat schon vor drei Monaten gesagt, dass ein Referendum über einen Friedensvertrag entscheiden soll, dass das ukrainische Volk zustimmen müsste. Denn das ist es, was die ukrainische Öffentlichkeit will.

Ist das realistisch?

Das ist eine legitime Position. Und es ist an den Ukrainern, darüber zu entscheiden. Die Frage ist nur, wie eine Rückeroberung gelingen soll. Denn nach Lage der Dinge werden die Russen niemals die Krim zurückgeben, jedenfalls nicht in den nächsten drei Jahren. Für die Russen gehört die Krim nun vollständig zu Russland. Vor 2014 war das noch anders. Da interessierte sich fast niemand in Russland für die Krim. Putin hat sie als einen Mythos erschaffen, um seine Beliebtheit nach den Protesten von 2012 zu steigern. Er hat zwar eine erstaunliche Fähigkeit, der russischen Öffentlichkeit alles Mögliche zu verkaufen. Aber ich glaube nicht, dass er einen Verlust der Krim rechtfertigen könnte. Sie könnten natürlich einen Waffenstillstand vereinbaren, Verhandlungen beginnen und die Frage erst einmal offen lassen. Es gibt viele solcher Gebietsstreitigkeiten, bei denen die Verhandlungen eingefroren sind und beide Seiten Forderungen stellen. Das kann Jahrzehnte dauern. So etwas schließe ich nicht aus.

Warum sagt Selenskyj das ausgerechnet jetzt, in dieser schwierigen Kriegsphase?

Er möchte sich als Führungspersönlichkeit zeigen, die das ukrainische Volk vertritt. Und er möchte das Narrativ prägen. Darin ist Selenskyj in den vergangenen Monaten unglaublich gut gewesen. Er schaffte es, Schlagzeilen zu machen und die Ukraine in den Nachrichten zu halten. Er muss die Aufmerksamkeit der Welt erhalten und dem ukrainischen Volk vermitteln, dass er nicht aufgibt. Das wird schwerer, umso länger der Krieg dauert. Denn die internationalen Medien wenden sich irgendwann wieder anderen Themen zu. Er will deutlich machen, dass der Krieg zu gewinnen ist und dass weitere Unterstützung des Westens notwendig ist. Seine Botschaft ist: Vergesst uns nicht, unterstützt uns weiter! Denn das ist eine ganz entscheidende Sorge: Dass die Aufmerksamkeit der Welt nachlässt. So wie 2014. Damals ging der Krieg weiter, doch kaum jemand interessierte sich noch dafür. Selenskyj muss weiter Schlagzeilen produzieren. Hier in Großbritannien ist der Krieg beispielsweise schon keine Top-Nachricht mehr. Das wichtigste Thema ist nun die Wirtschaftskrise und die Inflation.

Wo stehen wir in diesem Krieg? Gewinnt Russland gerade?

Wir reden gerade nicht über Gewinnen oder Verlieren. Es ist nun die Frage, wer es über die kommenden Monate schafft, den Nachschub sicherzustellen und in welchem Umfang der Krieg andauert. Die Russen konzentrieren sich darauf, den gesamten Donbass zu besetzen. Ich glaube, das können sie noch eine Weile so weitermachen. Nach 2014 ging der Krieg jahrelang weiter, auch wenn die internationalen Medien dem nur noch wenig Aufmerksamkeit widmeten.

Was, wenn die Russen selbst irgendwann genug vom Krieg haben?

Ich glaube, Putin kann der russischen Öffentlichkeit alles verkaufen. Wenn die russische Führung morgen entscheidet, dass der Krieg es nicht wert ist, können sie das verkaufen. Die russische Führung war bislang exzellent darin, die Öffentlichkeit vom Krieg abzulenken. In der russischen Öffentlichkeit ist nur wenig über das bekannt, was vor Ort passiert. Und sie verfolgt das auch nicht wirklich. Der Fokus liegt auf den Sanktionen und darauf, wie schrecklich der Westen ist.

Tut Deutschland genug?

Ich glaube, diese Krise ist für Deutschland anders als für andere Länder. Die Briten sind an vorderster Front, weil sie glauben, dass sie nichts zu verlieren haben, egal wie der Krieg ausgeht. Sie treiben wenig Handel mit Russland und beziehen wenig Energie von dort. Das Gleiche gilt für die USA. Deutschland hat dagegen viel zu verlieren. Für die Bundesregierung stellte sich viel früher die Frage, ob man so kurz nach der Wahl die Wähler wütend macht oder eine ideologischere Position einnimmt. Und sie hat sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht. Ich verstehe aber auch die Kritik, weil Deutschland gezeigt hat, dass es keine Führung mehr übernehmen möchte, so wie noch unter Merkel etwa in der Flüchtlingskrise.

Scholz scheint eine militärische Eskalation zu fürchten.

Das ist offensichtlich eine andere Position als sie mit Ausnahme Frankreichs die meisten anderen Länder haben. Es ist die Frage, ob Deutschland nach dem Krieg seine Führungsrolle in Europa behalten wird - in einer Situation, in der wir eine Rezession in der Eurozone haben und es wieder um die Frage geht, ob Deutschland für alle bezahlt.

Die Osteuropäer sind sehr enttäuscht.

Die Osteuropäier haben recht, wenn sie sagen, Deutschland tue nicht genug und dass das inakzeptabel ist. Sie haben auch recht, wenn sie sagen, Putin hätte schon 2014 gestoppt werden müssen. Dann hätte es kein 2022 gegeben. Dann hätte er gelernt, dass der Westen reagiert, wenn er Land annektiert. So hat Putin gelernt, der Westen tut nichts, wenn du ziemlich große Gebiete und außerdem einen wichtigen Hafen annektierst.

Was bringen die Telefonate mit Putin?

Das Problem ist, dass wir immer noch nicht wissen, wie dieser Krieg enden wird. Irgendwann wird es Verhandlungen geben. Jeder Diplomat und jeder Militäranalyst wird Ihnen sagen, dass die Telefonleitung immer offen bleiben muss und man immer diplomatische Kontakte braucht. Es ist sicher nicht verkehrt, dass es im Westen unterschiedliche Positionen gibt. Die Amerikaner reden zwar nicht mit den Russen, finden es aber sicher dennoch nützlich, dass manche Europäer das tun. Die einzelnen Länder können unterschiedliche Rollen in der Krise spielen, auch wenn alle das Gleiche wollen.

Werden wirklich die Ukrainer nur selbst entscheiden, wie der Krieg endet?

Wir wissen nicht, ob die Amerikaner und die Briten mit am Tisch sitzen werden. Es stimmt, dass die Ukrainer am Ende entscheiden. Aber die Ukraine ist abhängig vom Westen. Wenn man fragt: "Kann die Ukraine den Krieg alleine weiterführen, auch wenn der Westen seine militärische und wirtschaftliche Unterstützung einstellt?", dann ist die Antwort beide Male "Nein". Deswegen muss Selenskyj die Aufmerksamkeit für den Krieg hochhalten. Die Ukraine ist auch auf westliche Hilfe beim Wiederaufbau des ganzen Landes angewiesen. Es klingt so einfach zu sagen, die Ukrainer müssten alleine entscheiden. Aber die Wirklichkeit ist komplexer. Sie brauchen das Geld aus dem Westen. Sie brauchen einen Marshall-Plan für die Ukraine. Aber am Ende haben die Ukrainer das letzte Wort.

Mit Aglaya Snetkov sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen