Belgorod unter Beschuss "Putin soll sehen, was er unserer Stadt angetan hat"
29.05.2024, 16:34 Uhr Artikel anhören
Zerstörte Häuser, Autos und Straßen sind in der russischen Stadt Belgorod längst Alltag.
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
Die russische Oblast Belgorod liegt direkt an der Grenze zur Ukraine. Gut drei Jahre nach dem Angriff auf die Ukraine ist sie längst selbst Kriegsschauplatz geworden und wird regelmäßig von ukrainischen Raketen und Drohnen getroffen. Das sorgt für eine Auswanderungswelle und Wohlstandsverluste.
In der Region Belgorod sind die Folgen von Putins Ukraine-Feldzug so sichtbar wie sonst nirgendwo im Land. Direkt an der Grenze ist der russische Großangriff auf das Nachbarland zum Bumerang geworden. Die Oblast im äußersten Westen Russlands wird derzeit etwa 300- bis 400-mal pro Monat von ukrainischen Raketen und Drohnen getroffen, hat das unabhängige russische Onlineportal Verstka berechnet. Besonders heftig war der Beschuss vor den russischen Präsidentschaftswahlen Mitte März, berichten Augenzeugen im russischen Exilmedium Meduza.
In den etwas über zwei Jahren seit Kriegsbeginn sind in der Region Belgorod über 140 Russen durch Beschuss ums Leben gekommen. Etwa ein Drittel der Todesopfer entfalle auf das laufende Jahr. Örtliche Behörden berichten von über 5000 beschädigten Wohnungen und Privathäusern, allein in der gleichnamigen Hauptstadt der Oblast. Direkt an der Grenze seien sogar über 6500 Häuser durch ukrainischen Beschuss zerstört worden.
Die Ukrainer greifen russisches Staatsgebiet an, um den Krieg auch ins Land des Angreifers zu tragen, analysiert ntv-Reporter Jürgen Weichert. "In Belgorod merken die Russen selbst, wie schlimm Krieg ist. Deswegen versucht Russland eine Art Pufferzone zu schaffen, indem man Charkiw angreift und die Ukrainer mehr Distanz zur russischen Grenze bekommen."
"Vorreiter bei der Bevölkerungsabwanderung"
Der Krieg hat weite Teile der Region Belgorod - ungefähr so groß wie Brandenburg - zerstört. Vor dem Angriff auf die Ukraine war sie vergleichsweise wohlhabend und genoss einen guten Ruf. Bezogen auf das Pro-Kopf-Einkommen gehörte sie zum obersten Drittel der insgesamt 92 russischen Oblaste. Vor dem Krieg zogen jedes Jahr etwa 50.000 Russen nach Belgorod.
Mittlerweile will niemand mehr freiwillig in der Region leben. Von einem "Vorreiter beim Migrationswachstum wurde Belgorod zum Vorreiter bei der Bevölkerungsabwanderung", schreibt das Portal Verstka und liefert Zahlen für den wirtschaftlichen Abstieg: Die Gewinne der ansässigen Unternehmen sind in den letzten zwei Jahren um 64 Prozent zurückgegangen, die Lebensmittelpreise inzwischen höher als in Moskau. Die Gründe dafür sind die erhöhten Kosten für die Transporte in die unter Beschuss stehende Region. Eine gefährliche Mischung.
"Keiner meiner Freunde oder meiner Verwandten hat vor, in Belgorod zu bleiben. Alle haben Angst. Hier gibt es keine Arbeit. Die Stadt ist leer. Wir müssen umziehen, das denken alle", sagt eine russische Bewohnerin von Belgorod im ntv-Interview. Die Frau steht beispielhaft für die Einwohner von Belgorod. Wer kann, verlässt die Oblast.
Grenzgebiete "fast völlig menschenleer"
Im dritten Kriegsjahr lebt die Region im Evakuierungs-Modus. Die örtlichen Verantwortlichen schicken immer mehr Menschen in Gebiete, die weiter entfernt von der ukrainischen Grenze liegen. Ende März teilte Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow mit, dass 3500 Kinder und etwa 1000 Erwachsene in provisorische Unterkünfte in anderen Regionen gebracht wurden. Die unmittelbaren Grenzgebiete seien inzwischen "fast menschenleer", berichtet Verstka und zitiert etliche Unternehmer, die keine Arbeitskräfte mehr finden.
Die individuelle Lebenssituation der Bewohner von Belgorod habe sich ebenfalls verschlechtert, schreibt das regierungskritische Onlineportal. Das liest es aus Daten der Zentralbank zu den Bankeinlagen der Russen ab. Demnach stiegen die Ersparnisse der Menschen nirgendwo in Russland so wenig wie in Belgorod.
Das Portal Meduza hat mehrere Einwohner Belgorods befragt. Was sie erzählen, zeigt, wie dramatisch die Lage ist. Viele Menschen fühlen sich machtlos und vom Präsidenten vergessen. "Ich wünschte, Putin würde kommen und sehen, was er unserer Stadt angetan hat", sagt eine junge Frau.
Um Anreize zu schaffen, trotz der unsicheren Lage in Belgorod zu bleiben, hat der Kremlchef einen Bezirk in Belgorod angeordnet, den grenznahen Shebekinsky-Bezirk innerhalb der Region zur Sonderwirtschaftszone zu machen. Dadurch würden die örtlichen Unternehmen unter anderem Steuervorteile bekommen, was sie wieder wettbewerbsfähiger machen könnte.
Ob die Menschen deshalb in die Region zurückkehren, ist äußerst fraglich. Angriffe aus der Ukraine wird es weiterhin geben, solange Russland den Krieg im Nachbarland nicht beendet.
Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?
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Quelle: ntv.de