Politik

NATO-Beitritt trotz Drohung Putin wirft Finnlands Sicherheitspolitik über den Haufen

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Finnische Soldaten bei der Übung "Nördlicher Wind" in Schweden im Jahr 2019.

(Foto: picture alliance/dpa/Lehtikuva)

Das vergleichsweise kleine Finnland war stets um gute Beziehungen zum großen russischen Nachbarn bemüht. Ein Beitritt zur NATO kam nicht infrage. Der Überfall auf die Ukraine verändert alles. Er könnte das Gegenteil von Putins außenpolitischen Zielen bewirken.

Inmitten der Krise um den Angriff Russlands auf die Ukraine nimmt sich US-Präsident Joe Biden Zeit für ein Land, das auf den ersten Blick keine große Rolle spielt im Weltgeschehen. Der finnische Präsident Sauli Niinistö ist am Freitag im Weißen Haus zu Besuch. Sein Land teilt sich eine 1340 Kilometer lange Landgrenze mit Russland und ist gerade deshalb seit dem Zweiten Weltkrieg um Bündnisneutralität bemüht. Doch ausgerechnet Wladimir Putins aggressive Außenpolitik, mit der er die NATO auf größeren Abstand zum russischen Territorium bringen will, rüttelt an der Überzeugung der Finnen, zwischen den Stühlen sicherer aufgehoben zu sein: Die öffentliche Stimmung geht mehr und mehr Richtung NATO-Mitgliedschaft.

Für den Kreml käme ein solcher Schritt fraglos einer offenen Provokation gleich. Im Budapester Memorandum von 1997 war festgehalten worden, dass die NATO keine dauerhaften Truppenstationierungen an der russischen Grenze vornehmen und kein Land seine Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer ausbauen darf. Der bisherige Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz und langjährige Spitzendiplomat, Wolfgang Ischinger, erklärte bereits in der vergangenen Woche, dass Russland dieses Memorandum mit der Invasion in der Ukraine womöglich selbst obsolet gemacht hat.

Der Kreml droht

Wie sehr Moskau einen NATO-Beitritt Finnlands und seines Nachbarlands Schweden fürchtet, wurde Anfang der Woche deutlich. Schriftlich und in barschem Ton forderte Außenminister Sergej Lawrow die Regierungen beider Länder auf, sich zu erklären, ob sie ihre Sicherheit auf Kosten Russlands auszubauen gedenken. Am vergangenen Freitag hatte eine russische Regierungssprecherin Finnland gedroht: Sollte das Land der NATO beitreten, würde das "ernsthafte militärische und politische Konsequenzen" nach sich ziehen. Es herrscht Eiszeit auch zwischen den skandinavischen Staaten und dem großen Nachbarn im Osten.

Für Finnland kommen die Entwicklungen der vergangenen Wochen und Monate einer Zäsur gleich: Das Land pflegt enge wirtschaftliche Kontakte zu Russland. Viele Russen besitzen Feriengrundstücke in Finnland, russische Investitionen und Kooperationen sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, weshalb die westlichen Sanktionen Finnland ungleich härter treffen als andere EU-Länder. 2019 flossen Investitionen über 1,5 Milliarden Euro aus Russland nach Finnland, zehnmal so viel wie Russland etwa im gleichen Zeitraum in schwedische Unternehmungen gesteckt hat.

Mehr als 60 Prozent seiner verfeuerten Kohle bezieht Finnland bisher vom Nachbarn. Um seine Klimaziele zu erreichen, wollte Finnland sich vom russischen Konzern Rosatom ein Atomkraftwerk bauen lassen. Dieses Vorhaben wackelt nun gewaltig, zumal Rosatom ein Drittel an dem finnischen Unternehmen Fennovoima hält, das das Akw Hanhikivi 1 betreiben soll. Wirtschaftsminister Mika Lintilä hatte zuletzt im finnischen Parlament gesagt, dass er der Regierung in der derzeitigen Situation unmöglich vorschlagen könne, Fennovoima die Baugenehmigung für ein Atomkraftwerk zu erteilen.

Marin unterstützt Debatte

Ein NATO-Betritt würde das Projekt erst recht erschweren. Eine große Mehrheit befürwortet diesen Schritt laut einer am Montag bekannt gewordenen Umfrage inzwischen. Dem finnischen Rundfunk zufolge sind 53 Prozent der Befragten für diesen Schritt, 28 Prozent dagegen und der Rest unentschieden. Diese Mehrheit hat Konsequenzen: Gleich zwei Volksinitiativen für einen Beitritt knackten deutlich das Quorum von 50.000 Unterschriften, die das Parlament zu einer Befassung mit dem Thema zwingen.

Angesichts dieses Zuspruchs, sei es "sinnvoll, die Haltungen der Parteien" zu einer NATO-Mitgliedschaft zu erörtern, erklärte Ministerpräsidentin Sanna Marin. Charly Salonius-Pasternak vom Finnischen Institut für Internationale Angelegenheiten (FIIA) bezeichnete das Ergebnis im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa als "völlig historisch und außergewöhnlich". Noch im Januar hatten sich nur 28 Prozent der Finnen für eine NATO-Mitgliedschaft ausgesprochen.

"Zeitenwende" auch in Finnland

Die weitere Entwicklung ist offen und gerade das stellt den größtmöglichen Paradigmenwechsel in der finnischen Russlandpolitik dar: Das Land war bisher bemüht, mit einem Höchstmaß an Transparenz für Moskau möglichst berechenbar zu sein, erläutern die Außenpolitikforscher Sinikukka Saari und Jyri Lavikainen vom FIIA. Anders als es in den NATO-Staaten oft der Fall war in den letzten Jahrzehnten, wird in Helsinki die russische Sicherheitsperzeption bei jeder Entscheidung mitgedacht. Zu übermächtig ist der große Nachbar, um das Verhältnis leichtfertig zu belasten - bislang.

In die Situation der Ukraine, eines im Zweifel unterlegenen Nachbarlandes Russlands, können sich die Finnen hineinversetzten. Und sie haben, genauso wie Schweden, entschieden, die Ukraine zu unterstützen. Finnland stellt der Ukraine 1500 Panzerabwehrwaffen und 2500 Sturmgewehre zur Verfügung. Außerdem spendet das Land 150.000 Patronen und 70.000 Portionen Feldrationen. "Das ist eine historische Entscheidung für Finnland", sagte Marin. Anders als Deutschland mit seinen Panzer- und Flugabwehrraketen liefert Finnland damit nicht nur als Defensivwaffen verbrämtes Kriegsmaterial. Das Land hat sich im Ukraine-Krieg klar gegen Russland gestellt.

Wenn Putin die NATO möglichst fern und die Nachbarländer von einem Beitritt zur NATO abschrecken wollte, scheint bislang eher das Gegenteil einzutreten. Dennoch ist die finnische Politik alarmiert, weil der NATO-Beitritt das Verhältnis zu Russland fundamental verändern würde. Präsident Niinistö erinnerte in diesem Zusammenhang erst Mitte Februar in einem "Spiegel"-Interview an eine Aussage von Putin aus dem Jahr 2016. Dieser habe gesagt: "Wenn wir derzeit über die Grenze schauen, sehen wir auf der anderen Seite einen Finnen. Wenn Finnland der NATO beitritt, sehen wir auf der anderen Seite einen Feind."

Quelle: ntv.de, mit dpa und AFP

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