Historikerin Fürst im Interview "Putins Stern ist ganz klar im Sinken"
18.03.2022, 21:23 UhrMit zwei Auftritten sorgt Russlands Präsident Putin diese Woche für Aufsehen - mit einer TV-Ansprache und einem Auftritt im vollbesetzten Fußballstadion. Die Historikerin Juliane Fürst fühlt sich dabei an die Stalin-Zeit erinnert und sieht Putins Regentschaft vor großen Problemen.
ntv.de: Putin hat heute eine Rede im vollbesetzten Luschniki-Stadion gehalten – was halten Sie davon, dass er nun die ganz große Öffentlichkeit sucht?
Juliane Fürst: Das war natürlich länger geplant, Anlass war ja der Jahrestag der Annexion der Krim. Ich nehme an, dass die Planung für das Stadion schon vorlag, als man noch dachte, man könnte die Ukraine in drei Tagen besiegen.
Dann wäre das heute der triumphale Auftritt nach dem Sieg gewesen?

Dr. Juliane Fürst leitet die Abteilung "Kommunismus und Gesellschaft" am Leibniz-Zentrum für zeithistorische Forschung in Potsdam.
Auf jeden Fall des sich abzeichnenden Sieges. Aber ich glaube, dass die Annahme tatsächlich war, dass man zu diesem Zeitpunkt Selenskyj schon gestürzt und große Teile des Landes unter Kontrolle gebracht hätte. Dieser Riesenaufmarsch im Stadion passt zu der Mobilisierungskampagne, die gerade unter dem Zeichen "Z" läuft, das jetzt überall an Gebäude gestrahlt wird, das Kinder in ihren Schulhöfen oder sogar in Krankenhausgärten formieren und das in den angeblich spontanen Videos von jungen Leuten als Losung auftaucht.
Ist das eine Flucht nach vorn?
Ja, die "Z"-Kampagne ist auf jeden Fall eine Flucht nach vorn. Vor allen Dingen, weil ja der Ukraine Faschismus vorgeworfen wird, ist dieses "Z" mit seiner implizierten Verherrlichung der Gewalt schon sehr gewagt.
Ist das jetzt so eine Art russisches Hakenkreuz?
Angeblich nennen abgebrühte russischen Medienmacher es auch ironisch die "Swastika", also ihr Hakenkreuz. Im Grunde genommen also ja. Es ist ein leicht einprägsames Symbol, das die Gesellschaft zusammenbringen, aber auch Furcht einjagen soll. Es mobilisiert aber es grenzt auch aus.
War dieser Auftritt im vollen Stadion ein Signal der Stärke und Geschlossenheit?
Als Medienereignis ja. In der Realität ist die russische Gesellschaft aber auf keinen Fall geschlossen. Ich würde sagen, dass Putins Position im Moment so unsicher ist, wie sie noch nie zuvor in seiner Regentschaft war. Das muss man jedoch relativ sehen: Putin sitzt seit 20 Jahren lang extrem fest im Sattel. Jetzt beobachten wir zum ersten Mal, dass größere Teile der Bevölkerung mit etwas, was er tut, fundamental nicht einverstanden sind. So fundamental, dass sie das Risiko einer Verfolgung und Ausgrenzung auf sich nehmen.
Woran machen Sie das fest?
Erstmal an dieser massiven Ausreisewelle aus Russland. Das Land verliert gerade eine ganze Generation junger, gut ausgebildeter Städter. Und auch wenn es nur ein Einzelfall ist: Die Fernsehmitarbeiterin, die während der offiziellen Abendnachrichten ein Antikriegsplakat in die Kamera hielt - wenn jemand, der gut situiert ist, und das ist man beim Staatsfernsehen, so etwas macht, dann sind die Risse schon recht tief.
Unter den gut Ausgebildeten gab es immer viele Putin-Kritiker. Kommt es nicht auf die breite Masse an?
Es bringt einen Staat nicht unbedingt zum Fallen, wenn sich eine Mehrheit gegen ihn stellt, sondern wenn sich Leute, die an Schlüsselpositionen und vor allen Dingen auch an Machtpositionen sitzen, gegen eine Regierung wenden. Ich nehme an, dass der Riss bis ganz nach oben geht. Die Leute auf den zweiten und dritten Leitungsebenen denken jetzt sehr genau nach, wie viel es ihnen jetzt noch bringt, auf Putins Seite zu sein. Das sogenannte ‚einfache Volk‘ wird als manipulierbar betrachtet. Aber auch hier lauert Widerstand: Eine große Gefahr für die Regierung waren in Russland seit jeher die Mütter der Soldaten. Wenn die Zahlen über die getöteten russischen Soldaten auch nur annähernd stimmen, dann lauert hier ein beachtliches Unmutsrisiko.
Aber die bekommen doch gar nichts mit, Putin hat das Land doch abgeschirmt.
Irgendwann kriegt eine Mutter schon mit, wenn der Sohn verletzt oder tot ist. Und es gibt bereits Organisationsstrukturen aus früheren Kriegen, etwa die Vereinigung der Soldatenmütter, die auch immer noch arbeitet und Informationen zusammenführt.
Bei seinem TV-Auftritt am Mittwoch hat Putin versprochen, die wirtschaftlichen Härten sozial abzufedern. Sprachlich ließ der "wirtschaftliche Blitzkrieg", die "Endlösung" der Ukraine-Frage, "Nationalverräter" und die Fliege aufhorchen, die wieder ausgespuckt wird – erinnert das nur deutsche Beobachter an die Nazis?
Das sind wohl eher die deutschen Ohren. Aber es gab auch viele Bezüge für russische Ohren. Putin benutzt eine Reihe von Ausdrücken aus dem Stalinismus. Vor allem die Formulierung, dass man sich nicht vor dem Westen verneigen soll. Das kommt natürlich zwar aus noch früheren Sphären, als Vasallen sich vor ihren Herrschern verneigen mussten. Aber auch Stalin betonte immer wieder, wie abscheulich es sei, sich vor dem Westen zu verneigen. In den späten vierziger Jahren lancierte eine Kampagne gegen sogenannte ‚Kosmopoliten‘. Das hörte sich damals sehr ähnlich an wie bei Putin und den Fliegen, die man ausspuckt, wenn sie einen aus Versehen in den Mund fliegen. Der Ekel ist hier Programm.
Warum bringt es Putin etwas, auf Stalin anzuspielen?
Stalin ist immer noch einer der beliebtesten sowjetischen Politiker. In Russland wurde sein Erbe nie richtig aufgearbeitet, trotz einiger Versuche. Außerdem hat Stalin den Zweiten Weltkrieg gewonnen und ist dadurch zumindest teilweise unangreifbar. Auch deswegen wird die grausame Zeit des Stalinismus oft schöngeredet.
Wackelt Putin?
Das ist natürlich von außen schwer zu sagen. Aber mich würde es nicht erstaunen, wenn sich in den nächsten Tagen oder Wochen ein Machtwechsel vollzieht. Das muss nicht heißen, dass Putin als Präsident abtritt, aber dass vielleicht andere Kräfte in der Regierung gewisse Entscheidungsfunktionen übernehmen. Da könnte die Armee eine Rolle spielen. Deswegen ist auch so wichtig, wie der Krieg jetzt weiter läuft. Es ist ganz klar, dass sein Stern im Sinken ist, auch wenn es viele Russen noch nicht wissen.
Kann man mit Putin überhaupt noch verhandeln?
Ich glaube, dass mit Putin fast nichts mehr zu verhandeln ist. Er ist in den vergangenen Jahren nie einen Schritt zurückgegangen. Anderseits glaube ich, dass er jetzt tatsächlich an einem Punkt ist, an dem er sich fürchten muss, was mit ihm passiert, wenn er gestürzt würde. Vielleicht überlegt er sich jetzt, Kompromisse zu machen, um das Risiko abzumildern. Aber ehrlich gesagt denke ich, dass die Flucht nur weiter nach vorne gehen wird.
Aber wer soll es ihm sagen? Es sollen doch nur noch Ja-Sager in seinem Umfeld sein.
Deswegen ist das Desaster auch so passiert. Auf der anderen Seite haben diese Ja-Sager auch Familien und sind mehr in der Gesellschaft verankert als Putin. Zum Beispiel hat die Tochter von Kreml-Sprecher Peskow eine Anti-Kriegsnachricht getwittert. Das deutet daraufhin, dass wenigstens Putins Leute, wenn auch nicht er selber, in Gespräche, auch im engsten Familienkreis, verwickelt sind, die nicht nur auf Schönrednerei hinauslaufen.
Mit Juliane Fürst sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de