Der Kriegstag im Überblick "Russen klauen Fahrräder" - London: Neuem Befehlshaber gelingt geordneter Abzug aus Cherson
20.11.2022, 20:45 Uhr
Der britische Geheimdienst spricht von einem in weiten Teilen geordneten Rückzug der Russen aus der Region Cherson.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Von der Front sind die Meldungen rar. Im Süden das Landes baut Russland nach ukrainischen Angaben Verteidigungsstellungen. Zugleich gibt es Anzeichen für weitere Rückzugsvorbereitungen. Derweil meldet Kiew Zahlen zu getöteten Zivilisten und erfassten russischen Kriegsverbrechen. Der 269. Kriegstag im Überblick.
Kiew: Mehr als 8000 getötete Zivilisten
Beim inzwischen fast neun Monate dauernden Krieg Russlands gegen die Ukraine sind ukrainischen Ermittlern zufolge mehr als 8300 Zivilisten getötet worden. Unter ihnen seien 437 Kinder, teilte Generalstaatsanwalt Andrij Kostin nach Angaben des Internetportals Unian mit. Mehr als 11.000 Menschen seien verletzt worden. Die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte Kostin zufolge aber höher liegen, da ukrainische Behörden zu einigen von Russland besetzten Gebieten noch keinen Zugang hätten. In den befreiten Regionen stoßen die ukrainischen Truppen weiter auf Leichen und Hinweise auf mutmaßliche Gräueltaten.
AKW Saporischschja erneut unter Beschuss
Am größten Atomkraftwerk Europas spitzt sich die Lage wieder zu. Die Internationale Energiebehörde (IAEA) berichtete unter Berufung auf eigene Experten nahe dem Werk Saporischschja von mehreren starken Explosionen. Die Schäden beeinträchtigten bislang nicht die nukleare Sicherheit. Russland und die Ukraine machten sich wie bei früherem Beschuss gegenseitig dafür verantwortlich.
Ukraine nennt Russlands Verhandlungsaufforderung "bizarr"
Die Ukraine weist Vorschläge zu Verhandlungen mit Russland erneut zurück. "Wenn man auf dem Schlachtfeld die Initiative ergreift, ist es ein wenig bizarr, Vorschläge zu erhalten wie: 'Ihr werdet sowieso nicht alles mit militärischen Mitteln erreichen, ihr müsst verhandeln'", sagte Präsidentenberater Mychailo Podoljak. Dies würde bedeuten, dass das Land, "das seine Gebiete zurückgewinnt, vor dem Land kapitulieren muss, das verliert".
US-Medien hatten kürzlich berichtet, hochrangige US-Vertreter würden die Ukraine zunehmend dazu drängen, Verhandlungen mit Russland in Erwägung zu ziehen. Podoljak zufolge hat Moskau Kiew bislang "keinen direkten Vorschlag" für Friedensgespräche unterbreitet. Stattdessen ziehe Russland es vor, diese über Vermittler zu überbringen und einen Waffenstillstand ins Gespräch zu bringen. Kiew betrachtet solche Gespräche als Manöver Moskaus, um Zeit zu gewinnen und eine neue Offensive vorzubereiten. "Russland will keine Verhandlungen. Russland führt eine als 'Verhandlungen' bezeichnete Kommunikationskampagne", sagte Podoljak.
Behörden erfassen Zehntausende Kriegsverbrechen
Ukrainische Behörden registrierten bislang mehr als 45.000 Kriegsverbrechen. 216 Personen seien als mutmaßliche Kriegsverbrecher gemeldet worden, darunter 17 russische Kriegsgefangene, hieß es. Von 60 angeklagten Personen seien 12 verurteilt worden. In den befreiten Gebieten rund um Cherson, Charkiw und Donezk stoßen die Ukrainer nach offizieller Darstellung auf immer mehr Beweise für Gräueltaten der einstigen russischen Besatzer. In den vergangenen zwei Monaten seien in diesen Gebieten mehr als 700 Leichen entdeckt worden, sagte der Generalstaatsanwalt im Staatsfernsehen. In rund 90 Prozent der Fälle habe es sich um Zivilpersonen gehandelt.
London: General Surowikin sorgt für geordneten Abzug aus Cherson
Der russische Abzug aus der Großstadt Cherson und der umliegenden Gebiet nordwestlich des Flusses Dnipro lief nach Einschätzung britischer Militärexperten vergleichsweise geordnet. Dies sei zum Teil auf das effektive Kommando von General Sergej Surowikin zurückzuführen. Surowikin war Anfang Oktober nach zahlreichen Niederlagen berufen worden. Auf mittlerer und unterer Befehlsebene mangele es aber weiter an Führungsstärke, heißt es im täglichen Geheimdienst-Update des britischen Verteidigungsministeriums.
"Russen klauen Fahrräder"
Nach ihrem Rückzug auf das Ostufer des Flusses Dnipro bei Cherson in der Südukraine bauen russische Soldaten dort nach Angaben aus Kiew neue Abwehrstellungen aus. Gleichzeitig seien sie etwa im Bezirk Kachowka vermehrt dazu übergegangen, Fortbewegungsmittel der Zivilbevölkerung zu stehlen, teilte der ukrainische Generalstab mit. "Sie stehlen der Bevölkerung ihre Privatautos, Motorräder und sogar Fahrräder", hieß es in der Mitteilung. Derartige Raubzüge in besetzten Gebieten seien meist Vorboten weiterer Rückzüge der Truppen. Schon beim Abzug russischer Einheiten aus Isjum in der Region Charkiw im Osten der Ukraine hätten sich die Besatzer an den Fahrrädern der Bevölkerung "bedient", da ihnen der Treibstoff für ihre Fahrzeuge ausgegangen sei, hieß es weiter.
Moskau und Teheran schließen angeblich Drohnen-Deal
Russland hat sich einem Medienbericht zufolge mit dem Iran auf den Bau von Hunderten mit Waffen bestückte Drohnen im eigenen Land geeinigt. Das berichtet die "Washington Post" unter Berufung auf Geheimdienstinformationen der USA und anderer westlicher Staaten. Demnach sollen Vertreter beider Seiten eine entsprechende Vereinbarung bei einem Treffen im Iran Anfang November abgeschlossen haben. Russland und der Iran seien dabei, Entwürfe und Schlüsselkomponenten zu übertragen. Damit könne die Produktion innerhalb weniger Monate beginnen, sagten mehrere Insider.
Deutschland will weiter "massiv helfen"
Deutschland sichert der Ukraine weitere Hilfe angesichts der russischen Angriffe auf die Infrastruktur zu. "Ja, wir werden von Deutschland aus massiv mithelfen, dass die Ukraine diesem Krieg standhält", sagte Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze in der ARD. "Wir liefern Generatoren. Wir helfen Stromleitungen, Wasserleitungen, Gasleitungen zu reparieren."
Zweites polnisches Opfer beigesetzt
In Polen ist das zweite der beiden Todesopfer des Raketeneinschlags im Grenzgebiet zur Ukraine mit einem Staatsbegräbnis beigesetzt worden. Die Beerdigung des 59-jährigen Traktorfahrers in dem kleinen Dorf Przewodow fand auf Wunsch der Angehörigen ohne Beteiligung des Militärs statt, wie die Nachrichtenagentur PAP berichtete. Am Vortag war das erste Opfer in Przewodow beerdigt worden. Eine Ehrenkompanie der polnischen Armee hatte dem 60-jährigen Lagerverwalter das letzte Geleit gegeben. In dem Dorf, nur sechs Kilometer von der Grenze zur Ukraine, war am Dienstag eine Rakete eingeschlagen.
Derweil haben Einsatzkräfte und Ermittler den Ort der Explosion vorerst verlassen. Am Ortseingang des Dorfes Przewodow seien keine Polizisten mehr zu sehen, die zuvor das Gelände um die Einschlagstelle gesichert hätten, berichtete ein Reporter der Nachrichtenagentur PAP.
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Quelle: ntv.de, jwu/dpa/rts/AFP