Politik

Kanzler hält Grundsatzrede Scholz will die EU umkrempeln

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(Foto: IMAGO/CTK Photo)

Der zaudernde Kanzler - dieses Bild hat Scholz selbst in den vergangenen Krisenmonaten untermauert, doch seine Grundsatzrede zur EU in Prag soll Aufbruchstimmung vermitteln. Das Signal: Deutschland ist nicht länger nur dabei, sondern bereit, auch voranzugehen.

Das Schwingen großer Reden gehört nicht zu Olaf Scholz' Stärken, doch die Stunde heute vor Studierenden der Karls-Universität in Prag hatte es dennoch in sich: Nicht weil es dem deutschen Bundeskanzler gelungen wäre, das Publikum unter den Kopfhörern erkennbar für seine europäischen Reformideen zu begeistern. Bemerkenswert an der Prager Rede ist wohl die etwas grundlegendere Erkenntnis: Scholz hat beim Thema Europa sehr konkrete Ideen und scheint sich bewusst, dass die nur umsetzbar sein werden, wenn Deutschland sich dabei stark engagiert.

Russlands Überfall auf die Ukraine hat die Europäische Union in ihrer Sicherheitsordnung bis ins Mark erschüttert. Jahrzehntelang setzte die EU auf das Miteinander mit Staatspräsident Wladimir Putin. Man ging darüber hinweg, dass derjenige, den Brüssel sich als europäischen "Partner" wünschte, seiner Außenpolitik offensichtlich sehr andere Maximen zugrunde legte, als die EU für sich definiert: militärische Eingriffe in Tschetschenien, der Ukraine, Syrien oder Libyen – immer mit dem Ziel, die eigene Macht auszubauen, sich Einflussmöglichkeiten zu erweitern. Von wachsendem Druck auf die eigene Bevölkerung, auf Aktivisten und Oppositionelle ganz zu schweigen.

Ein halbes Jahr nach der Erschütterung nun analysiert Olaf Scholz so klar Putins Gebaren, wie es sich viele Europäer, und ganz besonders jene, die im Osten der EU und in Nachbarschaft zu Russland zuhause sind, schon deutlich früher von dem Vertreter der größten europäischen Wirtschaftsmacht gewünscht hätten. Das vereinte Europa sei Putin "ein Dorn im Auge", sagt Scholz. "Weil es nicht in seine Weltsicht passt, in der sich kleinere Länder einer Handvoll europäischer Großmächte zu fügen haben." Europa sei offen "für alle europäischen Nationen, die unsere Werte teilen. Vor allem aber ist es die gelebte Absage an Imperialismus und Autokratie".

Was aus dieser Feststellung folgen muss, stellt Scholz in überraschend konkreten Worten dar: Die Unterstützung der Ukraine – wirtschaftlich, finanziell, politisch, humanitär, militärisch – werde so lange wie nötig aufrechterhalten. Deutschland habe hier in den letzten Monaten "grundlegend umgesteuert", was im Umkehrschluss nichts anderes bedeutet als das Eingeständnis, dass die Bundesregierung zuvor einen Kurs verfolgt haben muss, den der Kanzler aus jetziger Perspektive für falsch erachtet. In welche Richtung es damals ging, lässt Scholz offen und damit Interpretationsspielraum etwa für jene Kritiker, die Deutschland Zaudern und Zögern vorwarfen, als nach ihrer Ansicht auf internationaler Bühne klare Kante gefragt war.

Die klare Kante zieht der deutsche Kanzler nun mit einem halben Jahr Verzögerung ein. Hochmoderne Waffen würden in der kommenden Zeit geliefert, was genau, lässt Scholz im Vagen. Er tritt aber der Befürchtung vieler Experten entgegen, dass der Umfang der westlichen Unterstützung immer nur reichen werde, um die Ukraine knapp vor der Kapitulation zu bewahren. Nie jedoch, so die häufig geäußerte Meinung, werde sie in die Lage versetzt, den russischen Eindringling effektiv zurückzudrängen. Das Ziel der Hilfen ist laut Scholz jedoch, die ukrainischen Streitkräfte so gut aufzustellen, dass sie "ihr Land dauerhaft verteidigen können".

Scholz will die Ukraine "dauerhaft sichern"

Der Kanzler weiß, dass es dafür nicht ausreichen wird, das angegriffene Land nur mit Waffen zu unterstützen, die man selbst übrig hat und entbehren kann. Hieß es zu Beginn des Krieges noch, die Lieferung moderner westlicher Waffen sei nicht effektiv, weil die Schulungszeit zu lange dauere, hat die Bundesregierung nun nach Scholz' Darstellung erkannt, dass die Perspektive viel langfristiger sein muss und die Qualität der Waffen deutlich höher als zu Beginn des Krieges.

Scholz könne sich "zum Beispiel vorstellen, dass Deutschland besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung übernimmt". Den großen Begriff "Verantwortung" bettet er somit in ein sehr konkretes Angebot. Für das Ziel, die Souveränität der Ukraine dauerhaft zu sichern, ist Deutschland bereit, eine sehr gewichtige Aufgabe zu übernehmen. Gleichzeitig ist diese Aussage ein Signal an die europäischen Partner, die an der deutschen Haltung im Ukrainekrieg über Wochen und Monate nicht nur die Bereitschaft, sondern den Willen vermisst haben, wirkliche Verantwortung zu übernehmen.

Scholz wäre nicht Scholz, wenn er dieses weitreichende Angebot nicht mittels Konjunktiv und einem Füllsel wie "zum Beispiel" fast bis zur Unkenntlichkeit verklausulieren würde. Doch da diese Neigung des Kanzlers zum etwas farblosen Formulieren bekannt ist, dürften die EU-Partner den Inhalt der Aussage wohl trotzdem sehr ernst nehmen.

Nicht zuletzt, weil Scholz nicht auf dieser Ebene bleibt, sondern jenseits des Krieges in der Ukraine auch grundsätzlich eine neue sicherheitspolitische Ausrichtung der EU fordert. Denn der Zusammenbruch der alten europäischen, auf Partnerschaft mit Russland ausgerichteten Sicherheitsordnung hat die Union auf diesem Feld ins Chaos gestürzt. Mit Russland ist eine Sicherheitsordnung auf längere Sicht nicht denkbar, weil weder dieselben Werte geteilt werden, noch die Bereitschaft erkennbar ist, sich an geltende Regeln wie etwa das Völkerrecht zu halten. Womit aber soll die alte Ordnung ersetzt werden?

Wenn Olaf Scholz in seiner Rede fordert, die europäischen Staaten bräuchten ein "besseres Zusammenspiel unserer Verteidigungsanstrengungen", so reicht die Perspektive hier über den Ukrainekrieg hinaus bis zur Erkenntnis, dass sich die EU mit Russland in den kommenden Jahrzehnten in einer ständigen Auseinandersetzung befinden wird.

"Erheblichen Nachholbedarf" stellt der Kanzler bei der Verteidigung gegen Bedrohungen aus der Luft und aus dem Weltraum fest und plädiert für ein "gemeinsam aufgebautes Luftverteidigungssystem". Deutschland werde erheblich in Luftverteidigung investieren und sie so ausgestalten, "dass sich daran auch unsere europäischen Nachbarn beteiligen können". So würde Verteidigung nicht nur "kostengünstiger und effizienter", argumentiert der ehemalige Finanzminister, sondern es wäre "ein Sicherheitsgewinn für ganz Europa".

Scholz will das Vetorecht schrittweise ersetzen

Doch weiß Scholz auch, dass Verteidigungspolitik nicht das einzige Feld ist, auf dem die EU sich verändern muss, um den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen. Nachdrücklich plädiert er dafür, das Vetorecht, dass der EU in so vielen politischen Fragen immer wieder die Hände bindet, zu reformieren und schrittweise zu Entscheidungen der Mehrheit zu kommen. Mit jedem weiteren Mitgliedstaat wachse "das Risiko, dass ein einzelnes Land mit seinem Veto alle anderen am Vorankommen hindert", argumentiert der deutsche Kanzler.

Doch Scholz ist bewusst, dass er sich gerade im Osten der EU befindet, wo viele Staatschefs die Sorge umtreibt, in einer reformierten Union dann per Mehrheitsbeschluss immer überstimmt zu werden. Man könne damit in Bereichen beginnen, so der Kanzler, "in denen es ganz besonders darauf ankommt, dass wir mit einer Stimme sprechen". Die Sanktionspolitik hat Scholz dabei vor Augen, oder auch Fragen der Menschenrechte.

Doch muss die EU nicht nur mit einer Stimme sprechen, wenn es darum geht, in anderen Ländern die Verletzung von Menschenrechten zu verurteilen. Scholz weiß nur zu gut, dass auch innerhalb der Union die Standards des Rechtsstaats nicht von allen Mitgliedern geteilt werden, etwa wenn die EU-Staaten Ungarn und auch Polen sukzessive Bürgerrechte und Pressefreiheit einschränken. Sinnvoll scheine ihm, so Scholz, "Zahlungen konsequent an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards zu knüpfen".

Die Europäische Union muss sich nach der Erkenntnis, dass Ihr mit Putins Russland in den kommenden Jahrzehnten dauerhaft ein aggressiver Gegner gegenübersteht, umfassend neu sortieren. Welche Rolle Deutschland in diesem Prozess spielen wird, dem messen viele Experten eine entscheidende Bedeutung zu: Deutschland könnte die EU entscheidend schwächen, wenn es trotz seiner wirtschaftlichen Stärke zögerlich bleibt, sich auf "Teilnahme" beschränkt aber seine Gestaltungskraft nicht ausspielt. Deutschland könnte die Union aber ebenso stärken, wenn es bereit ist, Akzente zu setzen, Angebote zu machen, aktiv zu gestalten. Olaf Scholz hat sich heute bemüht herauszustellen, dass er sein Land in der letztgenannten Rolle sieht. Für die EU und den Westen insgesamt eine gute und überfällige Nachricht.

Quelle: ntv.de

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