Wieduwilts Woche So sexy ist die Apokalypse
18.11.2022, 15:26 Uhr
Polnische Soldaten in der Nähe des Ortes Przewodow, wo eine Rakete einschlug.
(Foto: REUTERS)
Beinahe wäre alles vorbeigewesen: Der Krieg, die WM, Twitter und "Projekte" von Cathy Hummels. Warum geringschätzen wir den Weltuntergang?
In dieser Woche stand die Welt am Abgrund. Russische Raketen auf Polen, jetzt ist es also passiert, das war's dann also: Mit Grusellust warteten wir aufs Ende und erfuhren das eine oder andere über uns selbst.
Es ist interessant, wie Menschen mit der Aussicht auf das Nichts umgehen. Nach den ersten Eilmeldungen sagte ich schnell allerlei absurd aufwändigen Projekten zu, akzeptierte abenteuerlich kurze Fristen und lächelte dabei in mich hinein, in der vagen, naja, Hoffnung, dass jede noch so kühne Zeitplanung sich am nächsten Tag durch atomares Feuer erledigen würde, spätestens am übernächsten.
Es irrten viele in diesen Stunden. Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick sprang gleich zum "Cui bono?" - wer könnte Interesse an der Ausbreitung des Kriegs haben, fragte er seine Follower. Und, im Hinblick auf den Verteidigungsmechanismus des NATO-Vertrags: "Sehe nicht, wer daran - außer die Ukraine und womöglich Polen, ein Interesse hätte." Da war der Boden in Przewodow noch gar nicht wieder abgekühlt.
Angriff auf NATO-Territorium!
Die "Bild" stellte fest: "Ob ein Versehen oder nicht - dies ist ein bewaffneter Angriff auf NATO-Territorium!", und erwähnte aber immerhin die dritte, derzeit wahrscheinlichste Variante. Die Schriftstellerin Juli Zeh, ich spekuliere, telefonierte vermutlich herum, ob noch jemand einen letzten offenen Brief zum unterschreiben hätte. (Es gibt tatsächlich einen neuen, aber der ist unwohlig und will die Ukraine mit Waffen unterstützen, wir werden Zeh dort eher nicht finden.)
Manch ein Experte blamierte sich durch Fehleinschätzungen bis auf die Knochen. Es ist auch nicht leicht: In der Twissenschaft ist heute ein wertloser Idiot, wer nicht binnen weniger Sekunden aus einer globalen Kriegslage eine 280-Zeichen-Forderung destillieren kann. Online-Fachlichkeit ist wie digitales Improvisationstheater - leidlich unterhaltsam, bis es grauenvoll daneben geht.
Auch in der Politik sah man Schnellschüsse: Die Verteidigungsfachfrau und erfahrene Twitter-Käfigkämpferin Marie-Agnes Strack-Zimmermann folgte zunächst ihrem ersten Eindruck und löschte kurz darauf ihren Tweet. Und darauf hinzuweisen ist mir durchaus wert, bei der nächsten Begegnung mit der robusten Liberalen womöglich eine Kniescheibe einzubüßen.
Rekorde im Zurückrudern
Manche der Instant-Experten stellten olympische Rekorde in der Disziplin des Zurückruderns auf. Die Raketen waren nämlich höchstwahrscheinlich russisch, aber aus Polen, lautet nun der überwiegend geteilte Konsens. Nur der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, hält bis heute daran fest, dass Russland die Raketen abgefeuert haben muss - und liefert der russischen Propaganda Munition: Unglaubwürdiger sah das Land seit Kriegsbeginn nie aus.
Dabei war schon die Weltuntergangsprämisse seltsam bemüht: Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis, und verschiedene Vertreter schworen wiederholt, man werde jeden Zoll des Territoriums verteidigen, was wohl auch ein polnisches Dorf einschließt. Allerdings sieht der Vertrag keinen "Doomsday"-Automatismus vor. US-Präsident Joe Biden muss gar nicht zwingend den roten Knopf drücken. Denn Politik ist auch im Krieg kein Pawlowscher Hund.
Nachdem die Endzeit also kurz und gruselig und quasselig im Raume stand, passierte - gar nichts. Also "nichts" ist natürlich falsch: Es sterben weiterhin jeden Tag Menschen im Krieg, manche werden mit dem Vorschlaghammer vor laufender Kamera erschlagen, andere durch Präzisionsschüsse erledigt, was das ukrainische Verteidigungsministerium danach auf Social Media mit "Predator"-Spezialeffekten vermarktet. Die Menschlichkeit kann offenbar auch ohne Atompilz verdampfen. Aber für uns hier in Deutschland rückten wieder andere, anders gruselige Themen in den Vordergrund, Cathy Hummels zum Beispiel.
Apokalypse im Meinungskampf
Aufmerksamkeit ist eine verdammte Droge. Davon bekommt am meisten, wer am schnellsten den Weltuntergang ausruft. Das war schon immer so, man denke an die Weltuntergangspropheten wie den Ökonomen Max Otte oder das aktuelle Endzeitgefasel der Rechtsextremen in den Vereinigten Staaten.
Eine Klimaaktivistin behauptete bei "Markus Lanz", das Ende sei nah und begründete das mit "der Wissenschaft" und "Bürgerkriegen". Mit jedem fatalistischen Schrei lauschen ein paar Ohren mehr, das ist schlicht eine Form des Meinungskampfs. Die Apokalypse war schon immer sexy.
Vielleicht liegt es am rieselnden Schnee, aber ich rate zu Besinnlichkeit. Fahren Sie doch einmal nach Gülpe, den dunkelsten Ort der Bundesrepublik, der liegt, wo sonst, in Brandenburg. Hier wohnen 160 Menschen und nachts geht das Licht aus, um Strom und Geld zu sparen. Dort kann man sich apokalyptisch gruseln, aber vor allem die Sterne sehen, und gerade jetzt regnen die Leoniden nieder.
Schauen sie zu, wie uns das Universum zu steinigen versucht. Vielleicht ist ja ein großer Brocken dabei - und beendet alle Fristen, Irrtümer, die WM und auch das Interesse an Cathy Hummels.
Quelle: ntv.de