Gezi-Prozess neu aufgerollt Türkisches Gericht klagt Freigesprochene an
21.05.2021, 17:53 Uhr
Osman Kavala ist einer der Hauptbeschuldigten im Prozess um die Proteste im Gezi-Park.
(Foto: picture alliance/dpa/Wiktor Dabkowski)
Ein Istanbuler Gericht rollt den Prozess rund um die Proteste im Gezi-Park im Jahr 2013 erneut auf. In einem ersten Verfahren sind die 16 Angeklagten freigesprochen worden. Kritiker sprechen von einem rein politisch motivierten Schritt. Die Richter scheinen teils willkürlich Verfahren zusammenzulegen.
Knapp acht Jahre nach regierungskritischen Protesten in der Türkei rollt ein Gericht in Istanbul ein umstrittenes Verfahren zu den damaligen Ereignissen wieder auf. In dem neuen Prozess müssen sich 16 Angeklagte verantworten, von denen einige in erster Instanz bereits freigesprochen wurden. Darunter ist der seit mehr als dreieinhalb Jahren inhaftierte Kulturförderer Osman Kavala, der zudem der Spionage beschuldigt wird. Auch der in Deutschland lebende Journalist Can Dündar steht unter Anklage.
Kritiker werten den neuen Prozess als rein politisch motiviert. Kavala selbst nannte das Vorgehen der Justiz willkürlich und zog Vergleiche zur Zeit des Nationalsozialismus. Er verglich seine Situation mit einem "Staffelstab, der bei einem Staffellauf übergeben" werde. "Verschiedene Richter und Gerichte übergeben sich meine Festnahme, ohne sie fallen zu lassen". Insbesondere die Spionagevorwürfe gegen ihn ähnelten dem im Nationalsozialismus gängigen Straftatbestand des "Landesverrats", sagte er. Ein Antrag auf seine Entlassung aus der Untersuchungshaft wurde abgelehnt. Die Verhandlung soll nun am 6. August fortgesetzt werden. Im Januar hatte ein Berufungsgericht beschlossen, dass das Verfahren neu aufgerollt wird.
Osman Kavala leidet massiv unter der Haft
Sieben Angeklagte halten sich wie Dündar im Ausland auf. Ihr Verfahren war ursprünglich abgetrennt worden. Kavala und die restlichen Angeklagten wurden vergangenes Jahr freigesprochen. Danach wurde er jedoch auf Basis neuer Anschuldigungen im Zusammenhang mit dem Putschversuch 2016 wieder inhaftiert, das Verfahren mit dem nun begonnenen zusammengelegt. Sein Anwalt Köksal Bayraktar berichtete, Kavala trage bereits körperliche und seelische Schäden von der langen Einzelhaft. Die weitestgehend friedlichen Gezi-Proteste im Sommer 2013 hatten sich zunächst gegen die Bebauung des Gezi-Parks im Zentrum Istanbuls gerichtet. Sie weiteten sich zu landesweiten Demonstrationen gegen die autoritäre Politik des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan aus. Die Regierung ließ die Proteste brutal niederschlagen.
Am ersten Tag der Verhandlung sagten mehrere Angeklagte aus. Der Prozess stieß auf großes Interesse. Zahlreiche Medienvertreter und internationale Beobachter wurden teilweise aus Platzmangel abgewiesen. Corona-Abstandsregeln konnten nicht eingehalten werden. Kavala selbst war per Video aus dem Gefängnis zugeschaltet. Unter den Zuschauern war auch seine Frau Ayse Bugra, eine Professorin. Die Zusammenlegung der Verfahren wurde von Menschenrechtlern sowie von Anwälten kritisiert. Die Vorwürfe hätten nichts miteinander zu tun, hieß es. Das Berufungsgericht hatte in seiner Entscheidung auch eine Zusammenlegung mit dem sogenannten Carsi-Prozess gefordert. Die Entscheidung darüber steht aber noch aus. Während der Gezi-Proteste hatte ein Fanclub des Fußballvereins Besiktas namens Carsi eine wichtige Rolle gespielt.
35 Besiktas-Fans wird Putschversuch vorgeworfen
Die Staatsanwaltschaft hatte insgesamt 35 Fußballfans unter anderem vorgeworfen, die Gezi-Proteste als Vorwand genutzt zu haben, um die Regierung zu stürzen. Im Dezember 2015 wurden sie aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Im vergangenen Monat wurde das Urteil wieder aufgehoben. Fikret Ilkiz, ein anderer von Kavalas Anwälten, sagte, würden die Verfahren zusammengelegt, werde der Prozess viele Jahre dauern. "Das können wir nicht dulden."
Erdogan hatte Kavala in der Vergangenheit etwa öffentlich mehrmals als Hintermann der Gezi-Proteste und seinen Freispruch als "Manöver" bezeichnet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte bereits im Dezember 2019 Kavalas Freilassung angeordnet, weil nicht genügend Beweise gegen ihn vorlägen.
Der in Paris geborene Kavala betreibt einen der größten Verlage der Türkei und setzt sich mit seiner Organisation Anadolu Kültür für den Dialog der Volksgruppen etwa im Kurden-Konflikt oder mit den Armeniern ein. Er gehörte zudem zu den Gründern des türkischen Zweigs der Open Society Foundation des US-Philanthropen George Soros. Die Stiftung fördert demokratische Bewegungen in zahlreichen osteuropäischen Ländern. Soros, der ungarisch-jüdischer Abstammung ist, ist das Feindbild vieler Populisten.
Quelle: ntv.de, als/dpa/AFP