
Stellungskrieg: Ein ukrainischer Offizier in einem Schützengraben bei Marjinka.
(Foto: REUTERS)
Vor allem in Bachmut ist die Situation für die Ukraine derzeit schwierig. Ziel der Ukraine dort sei es, "den gegnerischen Angriffen standzuhalten, während man auf neue westliche Waffen wartet", sagt ein Militärexperte. Mit größeren Offensivaktionen der Ukraine ist ab April zu rechnen.
In fast einem Jahr der großen russischen Invasion in die Ukraine hat die Initiative im Krieg mehrfach gewechselt. Nachdem die Ukraine den russischen Angriff auf Kiew erfolgreich abgewehrt hatte, konzentrierte sich Russland auf den Donbass. Dort konnten die Russen nach langen Kämpfen die wichtigen Städte Lyssytschansk und Sjewjerodonezk erobern. Danach überraschte die Ukraine mit einer erfolgreichen Gegenoffensive im Bezirk Charkiw und konnte auch das westliche Ufer des Dnipro-Flusses in der südlichen Region Cherson befreien.
In den letzten Wochen geht nun Russland wieder verstärkt in die Offensive. Im Donbass versucht die russische Armee nicht nur, in Richtung der seit mehr als einem halben Jahr umkämpften Stadt Bachmut voranzukommen, sondern auch an weiteren Orten - dort allerdings, anders als um Bachmut, mit wenig Erfolg. "Der Krieg geht gerade in eine neue Phase", so die Einschätzung des ukrainischen Militärexperten Oleksij Melnyk, Oberstleutnant a.D. und Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa. "Bis Mitte Januar hatte die Ukraine die strategische Initiative. Im letzten Monat hat Russland es geschafft, an einigen Stellen der Front die Initiative wieder zu übernehmen", sagt Melnyk ntv.de. "Wir erleben jetzt die Kulmination des Positionskrieges, während beide Seiten ihre Offensiven vorbereiten, wobei diese auf russischer Seite teilweise bereits laufen. Erst danach werden wir sehen, wohin sich der Krieg auf der strategischen Ebene entwickelt."
Aktuell sei die Ukraine damit beschäftigt, vereinzelte Angriffe der Russen abzuwehren, sagt Oleksandr Mussijenko, Direktor des Zentrums für militärrechtliche Studien in Kiew. "Was das territoriale Vorankommen anbetrifft, bleibt der Krieg eigentlich nach wie vor in einem Stand-by-Modus auf beiden Seiten." Es gebe taktische Erfolge der Russen bei Soledar in der Nähe von Bachmut. "Man sollte aber darauf nicht zu panisch blicken, im Gesamtvergleich sind sie enorm klein." Russland verwende enorme Ressourcen, um die gesamte Region Donezk zu besetzen, könne das aber nicht erreichen und habe große Verluste. Mussijenko vergleicht die Kämpfe um Bachmut mit denen um die Zwillingsstädte Lyssytschansk und Sjewjerodonezk im Mai und Juni, die etwa 50 Kilometer nordöstlich liegen.
Standhalten und auf westliche Waffen warten
Die Lage in Bachmut sei schwierig, "weil Russland die Verluste egal sind", sagt Mussijenko ntv.de. "Die Aufgabe der Ukraine ist in Bachmut, den gegnerischen Angriffen standzuhalten, den Gegner zu erschöpfen und das Gesamttempo des Angriffs zu verringern, während man auf neue westliche Waffen wartet", betont der Militärexperte. "Lyssytschansk und Sjewjerodonezk mussten in einer ähnlichen Lage irgendwann auch aufgegeben werden, die Russen sind aber danach nicht mehr vorangekommen, und die Ukraine begann mit erfolgreichen Gegenangriffen."
Die im Westen gelegentlich geäußerte Kritik am Sinn dieser Strategie weist Mussijenko zurück. "Natürlich gibt es dort auch auf ukrainischer Seite große Verluste, doch wenn die Gefahr der Einkesselung zu groß wird, werden die Kräfte natürlich abgezogen." Oleksij Melnyk äußert sich mit Blick auf Bachmut etwas zurückhaltender. "Das Problem der Betrachtung ist, dass man die Lage auf allen Ebenen kaum einschätzen kann. Es gibt nur ein paar Menschen in der Ukraine, vor allem Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj und sein engster Kreis, die sowohl die Lage vor Ort als auch die strategische Lage auswendig kennen", sagt er. "Meine Bekannten in Bachmut stellen sich teils auch die Frage, ob die Verteidigung der Stadt noch Sinn macht. Das sind Menschen vor Ort, die jeden Tag ihr Leben riskieren und den Tod von Kameraden erleben. Ob sie aber den strategischen Plan der Militärführung kennen? Die Antwort ist: bestenfalls nur einen kleinen Teil davon."
Russland setzt auf Abnutzungskrieg
Wo Melnyk und Mussijenko sich einig sind: Größere Offensivaktionen der Ukrainer sind eher ab Mitte April zu erwarten, was einerseits mit dem Wetter und andererseits mit den westlichen Waffenlieferungen sowie mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten im Ausland zusammenhängt. An der Wende in der Panzerfrage sieht Oleksij Melnyk vom Zentr Rasumkowa die neue Zuversicht des Westens, dass die Ukraine auf dem Schlachtfeld gewinnen kann: "Es geht hier wirklich ganz konkret um Zuversicht und nicht mehr um Fragen des Glaubens."
Russland habe sowohl seine Strategie als auch seine Taktik verändert. "Sie wechseln zu einem enorm langen Abnutzungskrieg mit dem Hintergedanken, dass die Ukraine diesen Marathon nicht aushalten kann. Gleichzeitig ist es so, dass selbst das russische Ziel, die gesamte Oblast Donezk zu besetzen, bei allen taktischen Erfolgen unrealistisch erscheint", betont Melnyk. "Das ist ein Anreiz für den Westen, die Unterstützung für die Ukraine zu vergrößern, dieses Szenario zu zerbrechen und mit weiteren Waffenlieferungen den Krieg zu verkürzen und nicht umgekehrt."
Von großer Bedeutung wäre nach Einschätzung der beiden Experten eine Lieferung von Raketen mit größerer Reichweite sowie von Kampfflugzeugen. Melnyk unterstreicht, dass vor allem Flugzeuge westlicher Bauart wichtig wären. "Das Beispiel Panzer hat gezeigt, dass nichts mehr unmöglich ist. Ich bin überzeugt, dass die Entscheidung zu Kampfflugzeugen kommt. Ob es F-16 oder Typhoon sein werden oder ähnlich wie bei den Panzern mehrere unterschiedliche Flugzeugtypen spielt keine so große Rolle. Wichtig ist die politische Entscheidung, die neue Türen öffnen wird", sagt Melnyk, der mehr als zehn Jahre ukrainische Piloten ausgebildet hat.
Flugzeuge für die Luftabwehr wichtig
Dass Flugzeuge - anders als Panzer - bereits bei der möglichen ukrainischen Offensive im Frühjahr zum Einsatz kommen, ist ausgeschlossen. Aber die Zeiträume für die Ausbildung von ukrainischen Piloten sieht Melnyk nicht so kritisch wie im Westen. "Idealerweise geht es um rund sechs Monate. Wenn darüber gesprochen wird, dass etwa für eine Typhoon drei Jahre gebraucht werden, geht es um Piloten mit einer nur sehr elementaren Grundvorbereitung", erklärt er. "Ein Pilot, der bereits 300 bis 500 Stunden geflogen ist, braucht für die individuelle Vorbereitung drei Monate. Dann geht es noch einige Monate um die Gruppenvorbereitung. Aber es sind viel, viel weniger als die drei Jahre, von denen der britische Premier Rishi Sunak gesprochen hat."
Melnyk vergleicht westliche Flugzeuge und Raketen mit größerer Reichweite mit dem Effekt, den die Lieferung der Mehrfachraketenwerfer HIMARS hatten. "Das sind alles keine Wunderwaffen. Aber selbst zehn HIMARS mit einer Reichweite von 70 bis 80 Kilometern haben die Lage an der Front kolossal verändert und dafür gesorgt, dass die Russen ihre Logistik komplett umbauen mussten", sagt er. Allerdings seien sie nicht mobil genug: "Wenn man seine Kräfte von einer Richtung in eine andere verlegen muss, ist die Geschwindigkeit von HIMARS auf einer guten Straße zwischen 50 und 60 km/h. Die Verlegung eines solchen Mehrfachraketenwerfers kann Tage dauern. Außerdem sind sie dann für den Gegner leichter angreifbar."
Ein Flugzeug, das mit einer Rakete mit ähnlicher Reichweite ausgestattet wäre, sei deutlich flexibler. Eine weitere wichtige Funktion westlicher Flugzeuge wäre die Stärkung der Flugabwehr. So fliegen in Belarus ständig russischen Abfangjäger vom Typ MiG-31, die Hyperschallraketen der Klasse Kinschal ("Dolch") tragen können. Vor einigen Wochen schlug eine solche Rakete in Kiew ein, allerdings wohl nicht von Belarus aus abgeschossen. Die Flugabwehr auf dem Boden ist gegen solche Raketen machtlos. Von westlichen Flugzeugen aus wäre es aber durchaus möglich, sie abzufangen.
"Überraschungen sind immer möglich"
Aus Sicht von Oleksandr Mussijenko wären die Lieferung von Munition des Typs GLSDB mit einer Reichweite von bis zu 150 Kilometern für Mehrfachraketenwerfer sowie von Flugzeugen ein "Game Changer": "Man sieht an russischen Statements, dass Russland davor Angst hat. Ich bin absolut überzeugt, dass die Flugzeuge kommen werden. Ob das zuerst die MiG-31 aus Polen sein werden oder F-16, das werden wir sehen, aber sie kommen."
Im Blick auf die nächsten Monate sagt Mussijenko, es sei für die Ukraine einfach wichtig, Waffen und Ressourcen zu sammeln. "Es gibt zwei Faktoren für Offensiven. Einerseits plant die Ukraine anders als Russland Offensivoperation so, dass möglichst weniger Soldaten sterben. Zweitens geht es eben um das Wetter: Russland setzt stark auf Infanterie, was die Ukrainer vermeiden wollen, und ist vom Zustand des Bodens unabhängiger. Die Leopard- und Challenger-Panzer sind zudem schwerer als die, welche die Ukraine aktuell einsetzt."
Oleksij Melnyk sieht das ähnlich: "Vom Wetter her könnte die Offensive entweder in den nächsten zwei Wochen kommen, was aus anderen Gründen unwahrscheinlich ist, oder dann, wenn die Erde trocknet. Dabei muss man auch darauf achten, dass die offiziellen oder halboffiziellen Aussagen oft Teil des Informationskrieges sind." So hat die Ukraine im letzten Jahr eine Gegenoffensive im Süden angekündigt, dann aber zunächst die Operation im Bezirk Charkiw durchgeführt: "Überraschungen sind immer möglich. Denn eines der Ziele der ukrainischen Offiziellen ist es, den Gegner zu verwirren."
Quelle: ntv.de